Mit Kindern neue Wege gehen. Lienhard Valentin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lienhard Valentin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813129
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auf Situationen reagieren, die derartige Zustände hervorrufen. Es geht in dieser Art von Übung zunächst einmal nicht darum, etwas oder sich selbst zu verändern oder sich in irgendeiner Weise zu beurteilen. Sie müssen nichts anders, nichts richtig machen, sondern es geht darum, daß wir uns selbst und unsere Reaktionsweisen kennenlernen, daß wir ein echtes Interesse an uns selbst und unserer eigenen Art und Weise zu reagieren entwickeln. Wenn wir zu schnell reagieren, uns bewerten und verändern wollen, endet dies eher in Selbstmanipulation. Aber wenn wir beginnen, uns selbst besser wahrzunehmen, und wenn es uns mit der Zeit gelingt, unseren inneren Raum zu erweitern, können wir vielleicht hin und wieder aussteigen, wenn unsere alten gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster das Ruder übernehmen wollen.

      Wenn Sie bei dieser Selbsterforschung entdecken, daß einige Ihrer Reaktionen im Leben mit Ihren Kindern wenig hilfreich oder sogar schädlich sind, können Sie irgendwann damit beginnen, zu experimentieren, ob es möglich ist, einen Moment innezuhalten. Sie können sich einfach innerlich „Stopp“ sagen, zwei- oder dreimal langsam tief ein- und ausatmen und Ihre Aufmerksamkeit nach Innen, auf Ihren Zustand richten – ohne diesen zu beurteilen oder ändern zu wollen. Dann können Sie sich fragen, was eigentlich los ist. Besonders hilfreich ist es, wenn Sie herausfinden, welches Bedürfnis in Ihnen unbefriedigt ist. So entsteht mit der Zeit ein innerer Raum, in dem sich die Möglichkeit ergibt, daß Sie die Situation mit neuen Augen sehen und so auch zu einer anderen Art und Weise finden können, auf sie zu antworten.

      In diesem Zusammenhang gibt es eine schöne Geschichte von einer Mutter, die durch den Kontakt zu dem bekannten buddhistischen Meister Thich Nhat Hanh zur Praxis der Achtsamkeit gefunden hat:

      Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie leicht wir in unserem Alltag von unseren Gewohnheiten mitgerissen werden und wie schnell wir den Kontakt zu uns und zu dem, was wir gerade tun, verlieren. Um sich immer wieder daran zu erinnern, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren, war diese Familie dem Rat von Thich Nhat Hanh gefolgt und hatte in ihrem Wohnzimmer eine Klangschale aufgestellt. Immer mal wieder, wenn jemand an dieser Schale vorbeikam, oder wenn jemand merkte, daß sich eine Atmosphäre von Hast und Streß aufbaute, konnte er die Schale anschlagen. Dies war dann das Signal für alle, innezuhalten, die Aufmerksamkeit nach innen auf den Atem zu richten, sich zuzulächeln und sich so einen Moment Raum zu geben, wieder bei sich anzukommen.

      Wie die Mutter erzählte, hatte ihr dreijähriger Sohn den Wert dieser Praxis sehr schnell erkannt. Eines Tages, sie war gerade in Eile und wollte nur schnell noch die Betten machen, hörte die Mutter im Nebenzimmer ein lautes Scheppern und Klirren. Als sie schon deutlich angespannt in das Wohnzimmer kam, sah sie, daß ihr Sohn bei dem Versuch, eine Schale mit Keksen zu stibitzen, diese fallengelassen hatte, wodurch sie dann zu Bruch ging. Das war zuviel des Guten. Gerade kochten in ihr die Emotionen hoch, und sie war kurz davor, ihren Sohn nicht gerade sehr achtsam und respektvoll zurechtzuweisen, als dieser schnell zu der Klangschale eilte und diese anschlug. Es war also nun ihre Aufgabe, innezuhalten und sich nach innen zu wenden.

      Der Zauber war unmittelbar gebrochen und ihre Wut verflogen. Natürlich wies sie ihren Sohn dann trotzdem noch zurecht, aber es geschah in einer vollkommen anderen Weise, getragen von einem inneren Lachen und ohne die Anwendung von Macht oder Gewalt.

      Vor allem unter Streß verlieren wir leicht die Kontrolle über uns, und wir tun oder sagen Dinge, die wir später manchmal gar nicht mehr nachvollziehen können. Dies ist in gewisser Weise eine natürliche Reaktion, die in früheren Zeiten für unser Überleben unerläßlich war. Wenn wir in Gefahr gerieten, mußte unser Organismus möglichst schnell zu Angriff oder Flucht aktiviert werden. Dazu werden bei Gefahr besondere Streßhormone wie Adrenalin ausgeschüttet, die dafür sorgen, daß wir möglichst schnell und automatisch reagieren. Die Pupillen weiten sich, unser Blick verengt sich, unser Denken ist stark eingeschränkt, Puls sowie Atmung beschleunigen sich, und unser gesamter Körper wird so blitzartig in Kampf- beziehungsweise Fluchtbereitschaft gebracht.

      Diese automatische Streßreaktion ist in unserer heutigen Zeit und vor allem im Leben mit Kindern natürlich wenig hilfreich. Aber sie ist es, die uns manchmal in einer Weise reagieren läßt, die uns vielleicht über uns selbst erschrecken läßt. Der erste Schritt, aus diesem Reaktionsmuster auszusteigen, besteht darin, daß wir erkennen, was sich gerade abspielt. Nur wenn uns mitten in einem solchen Anfall bewußt wird, daß wir beginnen auszurasten, können wir uns innerlich „Stopp!“ sagen. Vielleicht merken wir dann, wie sich unsere Fäuste ballen, das Blut in den Kopf steigt und sich alles in uns darauf ausrichtet, das „Objekt“ unseres Stresses anzugreifen.

      In diesem Zustand sind wir nicht zu klarem Denken in der Lage, und so mag es sehr sinnvoll sein, vielleicht erst einmal ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, ein paar Schritte auf und ab zu gehen oder sogar den Raum zu verlassen, bis wir uns wieder so weit beruhigt haben, daß wir wieder „wir selbst“ sind und die Situation auch wieder aus den Augen unseres Kindes sehen können.

      Sollte uns doch der Geduldsfaden reißen, ist es sehr wichtig, uns hinterher zu entschuldigen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir die Umgebung oder unseren Tagesablauf in einer Weise organisieren können, daß der Streß nicht dazu führt, daß wir unsere Kinder als Last oder gar als bedrohlich ansehen.

      Myla und Jon Kabat-Zinn sprechen gern davon, daß es manchmal scheint, als wären wir, oder auch unsere Kinder, in einer Art Zauberbann gefangen. Wir können zu einer bösen Hexe oder einem bedrohlichen Riesen werden, wenn unsere Emotionen mit uns durchgehen. Der erste Schritt, uns aus einem solchen bösen Zauber zu befreien, besteht darin, erst einmal innezuhalten und nicht automatisch zu reagieren, wie es uns dieser Zustand eingibt. Das heißt nicht, daß wir unsere Gefühle unterdrücken sollen. Wir geben ihnen innerlich Raum, aber wir können lernen, uns nicht einfach mitreißen zu lassen. So wird es uns mit der Zeit möglich, eine geeignetere Antwort auf eine Situation zu finden.

      Schön, daß es dich gibt

      Von einem Stamm in Afrika wird die folgende Geschichte erzählt:

       Wenn eine Frau den Wunsch in sich verspürte, einem Kind das Leben zu schenken, ging sie alleine in den Wald und wartete in der Stille lauschend auf das Lied des Kindes, das zu ihr kommen wollte.

       Wenn sie das Lied schließlich hören konnte, summte sie es viele Male vor sich hin und ging dann zu dem zukünftigen Vater, um es ihn zu lehren und es mit ihm gemeinsam zu singen.

       Während das Kind in Liebe gezeugt wurde, trugen die zukünftigen Eltern das Lied in ihrem Herzen, und später, während seiner Geburt, wurde es von allen gesungen, die dieser beiwohnten.

       Immer wenn es Kummer hatte oder ihm ein Leid widerfuhr, wurde sein Lied gesungen – und auch bei allen wichtigen Anlässen, auf seinem Weg durch die Welt.

       Das Lied begleitete ihn durch sein ganzes Leben. Und wenn ein Mensch schließlich im Sterben lag, wurde sein Lied wiederum gesungen, so daß es ihn auch auf seinem Weg aus der Welt begleitete.

      Diese Geschichte hörte ich von dem bekannten buddhistischen Meditationslehrer Jack Kornfield. Ich finde, daß sie von einem geradezu unglaublichen Einfühlungsvermögen zeugt. Auch wenn wir eine solche Tiefe wahrscheinlich kaum erreichen können, kann uns diese Geschichte doch inspirieren, uns auf unsere Kinder einzustimmen und uns immer wieder zu fragen, wer sie in ihrem innersten Wesen wirklich sind. Sie steht für eine innere Haltung der bedingungslosen Liebe, die ein Kind nicht deshalb schätzt, weil es unseren Erwartungen entspricht oder weil wir etwas von ihm zurückbekommen, sondern einfach nur, weil es da ist. Ich bin überzeugt, daß die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu sein, für alle Menschen ein grundlegendes Bedürfnis ist, das allerdings nur selten befriedigt wird. Bei vielen Menschen hat sich zum Beispiel das Gefühl festgesetzt, daß sie etwas Bestimmtes leisten oder darstellen müssen, um liebenswert zu sein. So entsteht ein ungeheurer Leistungsdruck, dessen Auswirkungen nicht nur unser Leben als Eltern, sondern alle Bereiche unseres Daseins stark beeinflussen. Gleichzeitig besteht das Gefühl, diesen Erwartungen nie gerecht werden zu können, was den inneren Druck noch erhöht. Unsere eigenen Kindheitserfahrungen haben häufig dazu geführt, daß wir glauben, uns die Liebe unserer Mitmenschen verdienen zu müssen. Eine Prägung, die ungeheure Auswirkungen auf unser Innenleben hat.

      Vielleicht