Eines Abends nun hatte er eine Idee: Wie wäre es, wenn er an allen Halmen ein wenig ziehen würde, um sie so zu schnellerem Wachstum anzuregen? Er war so begeistert von dieser Idee, daß er sofort aufstand, auf sein Feld ging und bis tief in die Nacht hinein an jedem einzelnen Hälmchen zog und zupfte. Nach getaner Arbeit legte er sich schließlich zufrieden in sein Bett.
Am nächsten Morgen ging er voller Erwartung auf sein Feld. Aber was mußte er sehen: Alle jungen Triebe lagen verwelkt auf dem Boden, seine ganze Arbeit war umsonst gewesen. Diese Lektion sollte er sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Er hatte gelernt, geduldig zu warten und der Kraft der Pflanzen zu vertrauen, statt seiner Ungeduld zu erliegen und in den natürlichen Lauf der Dinge einzugreifen. Wachstum und Entwicklung brauchen ihre Zeit, und ich erreiche nichts Gutes, wenn ich versuche, diese Zeit zu verkürzen.
Geschichte Die Lehre des Engels
Es war einmal ein Engel, der wußte, wie gerne die Menschen feste Überzeugungen hegen und sich mit anderen Menschen, die der gleichen Meinung sind, zu Gruppen, Glaubensrichtungen oder politischen Parteien zusammenschließen. Dieser Engel wollte den Menschen nun zeigen, wie verrückt, absurd und schädlich dieses Verhalten ist und ihnen helfen, vielleicht sogar über sich selbst lachen zu können. Er ließ sich einen großen Hut anfertigen, der genau in der Mitte geteilt war. Auf der einen Seite war er von leuchtendem Blau, auf der anderen Seite von flammendem Rot. Dann begab sich der Engel in einen Ort, wo auf beiden Seiten der Dorfstraße viele Menschen auf dem Acker arbeiteten. Dort zeigte er sich dann in all seiner Herrlichkeit und ging gemessenen Schrittes die Straße entlang. Alle Menschen auf der rechten Seite, ebenso wie alle Menschen auf der linken Seite der Straße hielten von Staunen und Ehrfurcht ergriffen in ihrer Arbeit inne und schauten zu dem Engel auf, der mit seinem Licht die ganze Gegend erhellte. Dann verschwand er plötzlich. Zunächst war es still, doch dann riefen alle: „Wir haben einen Engel gesehen! Wir haben einen Engel gesehen!“ Alle waren voller Freude und überglücklich, bis einer der Menschen von der linken Seite der Dorfstraße sagte: „War er nicht wunderbar, in all seiner Herrlichkeit und mit seinem roten Hut?“ Die anderen Bewohner der linken Seite stimmten ihm zu, aber von der rechten Seite kam Widerspruch: „Was redet ihr da? Er hatte einen blauen Hut auf!“, und die anderen Bewohner der rechten Seite stimmten ihm zu.
Die Meinungsverschiedenheit spitzte sich mehr und mehr zu, bis die Menschen auf beiden Seiten der Dorfstraße Barrikaden errichteten und begannen, sich gegenseitig mit Steinen zu bewerfen. Da erschien der Engel von neuem. Dieses Mal ging er in die andere Richtung – um dann wieder plötzlich zu verschwinden. Die Menschen von den beiden Straßenseiten schauten sich an, und die auf der linken Seite sagten: „Es tut uns leid, wir haben uns geirrt, er hatte tatsächlich einen blauen Hut auf. Bitte vergebt uns, wir haben uns getäuscht.“ Die Menschen von der rechten Seite erwiderten: „Aber nicht doch – wir haben uns getäuscht!“ Nun machte sich Unsicherheit breit. Sollten sie weiter gegeneinander kämpfen oder sollten sie Freundschaft schließen? Die meisten waren vollkommen ratlos und verwirrt angesichts der neuen Situation. Da erschien der Engel ein weiteres Mal. Strahlend und gemessenen Schrittes ging er bis zur Mitte der Straße. Dort blieb er kurz stehen, drehte sich langsam nach links und dann wieder nach rechts – und verschwand. Nach einer kurzen Pause der Verblüffung fingen alle herzlich an zu lachen, und fortan waren sie vorsichtiger, wenn sie in sich die Tendenz spürten, an ihren Vorstellungen und Überzeugungen um alles in der Welt festhalten zu wollen.
Reflexion | Innehalten |
Unser Leben ist häufig geprägt von ständiger Geschäftigkeit. Immer gibt es etwas zu tun oder zu organisieren. Vor allem wenn wir Kinder haben, scheint einfach nie Raum für Nicht-Tun dazusein. Entstehen einmal Lücken in unserem Alltag, so vertreiben wir uns mit Fernsehen, Zeitunglesen oder mit anderen Aktivitäten die Zeit. Momente der Stille, der Leere machen uns eher unruhig, und so lenken wir uns schnell wieder ab. Innere Unruhe und Streß sind die unvermeidliche Folge. Unsere Kultur kennt keine Wertschätzung für das Nicht-Tun – im Gegenteil, sie bietet eine Fülle von Ablenkungen, um der inneren Leere zu entfliehen. Diese Geschäftigkeit kann die innere Leere jedoch nie wirklich ausfüllen, und so laufen wir immer schneller. Dazu gibt es eine Zen-Geschichte von einem Mann und einem Pferd. Der Mann sitzt auf seinem galoppierenden Pferd. Er hat es offensichtlich sehr eilig. Vom Wegrand sieht ihn ein Freund, der ihm zuruft: „Wohin so eilig?“ Worauf der Reiter gerade noch zurückrufen kann: „Keine Ahnung! Frag das Pferd!“
Dieser Zustand kommt mir recht bekannt vor, wenn ich mich vom alltäglichen Streß mitreißen lasse. Ich vergesse dann, wohin ich eigentlich möchte, und meine Gewohnheiten treiben mich so sehr zur Eile, daß ich nur schwer anhalten kann. In diesem Zustand ist es unmöglich, zu meinem Sohn in einen wirklichen Kontakt zu treten. Achtsamkeit ist das Heilmittel, einen Weg zu finden, nicht gleich auf unser Pferd zu springen, wenn es losgaloppieren will.
Es gibt eine andere alte Weisheitsgeschichte, in der ein verzweifelter Suchender zu einem Meister kommt und diesem schildert, was er alles getan hat, um zu innerem Frieden und Glück zu finden. Der Meister lacht und sagt dem Suchenden: „Auf deiner Suche nach Glück eilst du so schnell durch dein Leben und bist ständig so beschäftigt, daß es dich nie einholen kann. Du mußt nämlich wissen – dein Glück läuft immer hinter dir her, aber es erwischt dich einfach nicht, wenn du ständig in Bewegung bist. Halte inne, und es wird dich erreichen.“
Auch im Leben mit Kindern ist es sehr hilfreich, immer wieder innezuhalten und die Leere des „Ich-weiß-Nicht“ ertragen und im Laufe der Zeit vielleicht sogar schätzen zu lernen. Besonders hilfreich ist es, wenn wir es uns zur Gewohnheit machen, in derartigen Situationen zunächst einmal uns selbst Einfühlung zu geben. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit, ohne zu beurteilen oder etwas Bestimmtes zu erwarten, auf unseren eigenen inneren Zustand lenken, bekommen wir mit der Zeit ein besseres Gefühl für uns selbst. Da alles, was wir tun, durch unseren emotionalen Zustand gefärbt wird, ist es außerordentlich hilfreich, wenn wir uns bewusst sind, was sich gerade in uns abspielt. Nur so können wir, statt automatisch zu reagieren, eine Antwort finden, die der Situation, dem Kind und uns selbst angemessen ist. Denn nur in diesem leeren Raum können wir mit unserer Intuition in Verbindung kommen, die Signale, die Kinder uns geben, verstehen und auf einer tieferen Ebene mit ihnen in Kontakt treten. Wenn wir im Leben mit Kindern, oder auch in anderen Situationen, nicht weiterwissen, suchen wir die Lösung normalerweise außen. „Was soll ich tun, wenn mein Kind …“ ist eine verständliche und weitverbreitete Frage, und es gibt ja auch genügend Fachleute, die schnell mit Ratschlägen bei der Hand sind. Wenn all diese wohlgemeinten Ratschläge im Umgang mit Kindern wirklich etwas nützen würden, wären wir schon lange perfekte Eltern, und Schwierigkeiten im Leben mit Kindern wären die Ausnahme. Tatsächlich ist in jeder Frage im Leben mit Kindern auch die Antwort enthalten. Sie ist vielleicht nicht unbedingt leicht zu entdecken, aber wenn wir lernen, das Nichtwissen zu ertragen, offen zu bleiben und uns auf unsere Kinder einzulassen, wird sie sich nach und nach zeigen.
Übung | Innehalten |
Eine sehr wirkungsvolle Möglichkeit, unseren inneren Raum zu erweitern, ist die Praxis der Achtsamkeit. Gleichzeitig ist sie ein wertvolles Werkzeug zur Streßbewältigung und zur Regeneration. Eltern haben manchmal Schwierigkeiten, ein wenig Zeit für diese „innere Arbeit“ zu finden. Aber es ist unmöglich, unseren Kindern zu geben, was sie brauchen, wenn wir uns selbst dabei außer acht lassen. Dann hilft es uns, einen Weg zu finden, auf dem auch wir die innere Nahrung bekommen, die wir brauchen. Da ich dieses Thema für besonders wichtig halte, habe ich ihm den dritten Teil dieses Buches gewidmet. Ich möchte Sie aber schon jetzt einladen, hin und wieder innezuhalten und die Aufmerksamkeit auf Ihre Reaktionen zu lenken, wenn Sie in eine Situation geraten, in der Sie mit einem Gefühl