Selbstorganisierte Teams führen. Siegfried Kaltenecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siegfried Kaltenecker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783969105344
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an einem umfassenden Konzept herumzuwerkeln, das am Ende keiner braucht. Sicher ist die Balance zwischen zu viel und zu wenig Komplexität nicht einfach. Lean-Prinzipien unterstützen eine solche Balance auf unterschiedlichste Weise:

       durch Rahmenbedingungen, die die Zusammenarbeit vereinfachen, indem beispielsweise – wie in Scrum – alle dafür notwendigen Experten in einem Team zusammengeführt werden;

       durch smarte Priorisierungssysteme, die sich gegen das traditionelle »Möglichst viel auf einmal« stellen;

       durch die Limitierung paralleler Arbeiten, die die Konzentration erleichtert;

       durch eine kontinuierliche Verbesserung aller Arbeitsprozesse;

       durch die Förderung eines interdisziplinären Lernens über Expertisengrenzen hinweg;

       durch den Einsatz diverser Visualisierungstechniken, die den Überblick erleichtern;

       durch Kommunikationstechniken, die den laufenden Austausch in konstruktive Bahnen lenken.

      Unglücklicherweise ist Einfachheit alles andere als einfach. Es braucht Erfahrung und es braucht vor allem Zeit, um etwas so einfach wie möglich zu machen. Es braucht Zeit, damit sich Teams ausreichend miteinander einspielen können. Es braucht Zeit, um sich auf die richtigen Dinge zu konzentrieren und gute Business-Entscheidungen zu treffen. Und es braucht Zeit, wenn wir selbstorganisierte Teams mit möglichst einfachen Mitteln führen wollen. Ansonsten dauert alles nicht nur viel länger, sondern wird zugleich komplexer – wie das der französische Philosoph Blaise Pascal einmal so schön formuliert hat: »Ich entschuldige mich für diesen langen Brief, ich hatte einfach keine Zeit, einen kürzeren zu schreiben.«

       Kurz und Bündiges

      Kaum jemand hat Pascals Maxime besser umgesetzt als der bayerische Komiker Karl Valentin – selbstverständlich mit dem für ihn typischen absurden Humor:

      Sehr geehrte Damen und Herren,

      wir beschließen hiermit unser Schreiben und erachten die ganze Angelegenheit für erledigt.

      Hochachtungsvoll

      Karl Valentin

      »Mach’s einfach«, lautet einer der Grundwerte, den ein Schweizer Infrastrukturunternehmen gesetzt hat. In schöner Doppeldeutigkeit weist dieser Wert zumindest auf zwei wesentliche Dimensionen des agilen Vorgehens hin: erstens, dass man in vielen Situationen weniger herumüberlegen, sondern »einfach mehr anpacken« sollte, und zweitens, dass die einfachste Lösung oft gut genug ist – insbesondere, wenn wir noch wenig wissen und also Lernen im Vordergrund steht.

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       Abb. 2–2 Einfache Wegweiser für zeitgemäße Führung

       2.2.3Respekt

      Heutzutage scheint Respekt in aller Munde: bei Politikern, die gegen Antisemitismus auftreten, bei Musikern, die sich für Gleichberechtigung stark machen oder bei Sportlern, die gegen Rassismus auftreten. Da symbolische wie physische Gewalt nach wie vor zu unserem Alltag gehören, gibt es genug Gründe, allerorts für Respekt einzutreten. Doch wie zeigt sich echter Respekt in der Praxis? Wie können wir feststellen, ob Respekt das Fundament unserer Teamarbeit darstellt – oder bloß ein Wunschbild ist?

      In einer Welt des interdisziplinären Arbeitens ist es ganz normal, dass Teams aus unterschiedlichen Mitgliedern bestehen. Für mich bedeutet Respekt, grundsätzlich alle gleichwertig zu behandeln, ungeachtet dessen, wie ihr individuelles Wissen, ihre kulturelle Herkunft, ihr Geschlecht oder ihre Hautfarbe beschaffen ist. Darüber hinaus bedeutet Respekt, dass wir diese Unterschiede als Katalysatoren für ein produktives Schaffen sehen, das vom gemeinsamen Lernen lebt. Dafür brauchen wir neben dem persönlichen Respekt auch Fehlertoleranz. Eine derartige Grundhaltung ist etwa in der »Prime Directive« festgehalten, die vielen agilen Teams als Grundlage dient [Kerth 2001].

       Prime Directive

      Unabhängig von dem, was wir herausfinden, sind wir davon überzeugt, dass in der gegebenen Situation, mit den verfügbaren Ressourcen, mit dem vorhandenen Wissen und den individuellen Fähigkeiten jeder sein Bestes getan hat.

      Eine solches Lernen ist jedoch nicht umsonst zu haben. Das lapidare Abnicken der bestehenden Unterschiede macht daraus noch keine Produktivkraft. Dass wir unterschiedlich sind, ist eine banale Erkenntnis. Interessant wird es dort, wo wir die bestehenden Unterschiede Schritt für Schritt erkunden. Dabei geht es um Fragen wie:

       Wie sieht dein Background aus?

       Welche Erfahrungen hast du bisher gesammelt?

       Was waren Höhepunkte deiner Karriere? Was Tiefpunkte?

       Worin siehst du deine besonderen Stärken?

       Womit kämpfst du immer wieder?

       Worauf legst du in der Teamarbeit besonderen Wert?

      Die offene Auseinandersetzung mit solchen Fragen steht indes nicht nur im Zeichen des Respekts, sondern auch der Vertrauensbildung. Es ist eben kein Zufall, dass das C/D/E-Modell den Austausch unterschiedlicher Experten ins Zentrum selbstorganisierter Teams setzt.

      Obwohl ich davon überzeugt bin, dass Respekt zumeist auf persönliche Beziehungen bezogen wird, eignet sich der Begriff auch, um unser Verhältnis zur Organisation zu fassen. Wir sollten nämlich nicht vergessen, dass Respekt eine Grundvoraussetzung für die Mitgliedschaft in dieser Organisation ist. Ohne eine gewisse Anpassung an die Leitwerte der Unternehmenskultur können wir keinen Respekt der Organisation erwarten. Stattdessen wird man sich früher oder später Ärger einhandeln, wenn man nicht imstande oder willens ist, die aktuellen Richtlinien zu akzeptieren.

      Das bedeutet keineswegs, dass man die bestehenden Rahmenbedingungen als in Stein gemeißelt sehen muss. Aber es ist wichtig, diesen Rahmen auch aus einem systemischen Blickwinkel zu betrachten. Denn es gibt immer eine besondere Geschichte hinter dem, was wir schnell mal kritisieren und als Hindernis brandmarken. So stellen selbstorganisierte Teams gerne die hierarchische Steuerung als größtes Hindernis für tiefgreifende Veränderungen an den Pranger. Das führt bisweilen zu einem regelrechten Management-Bashing, ohne dass man wahrnimmt, wie dieses Bashing den proklamierten Grundregeln des Respekts widerspricht. Wie können wir von Respekt reden und gleichzeitig das Management zum bösen Buben machen? Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir bestehende Dysfunktionalitäten einfach hinnehmen sollen. Aber es bedeutet, dass die Personen respektiert werden müssen, auch wenn wir die von ihnen repräsentierte Unternehmenskultur verändern wollen. Ohne diesen grundlegenden Respekt ist es schwer, irgendetwas zu verändern – wie die folgende Fallgeschichte exemplarisch dokumentiert.

       Wie man Dinge ohne Respekt verändert

      Vor vielen Jahren habe ich einmal einen Workshop mit IT-Projektmanagerinnen und -managern moderiert, in dem es unter anderem um die Einführung agiler Softwareentwicklung ging. Dafür wurde neben mir als Moderator auch ein externer Scrum-Experte engagiert, der den Ansatz kurz und bündig vorstellen sollte. Seine Kernbotschaft löste allerdings sogleich höchstes Erstaunen aus: Der traditionelle Wasserfallansatz sei völlig dysfunktional und nur die agile Vorgangsweise garantiere Erfolg. Man tue gut daran, die alten Pläne und Werkzeuge möglichst rasch über Bord zu werfen und sich von der Vorstellung zu verabschieden, Projekte zentral zu managen.

      Es überrascht Sie wahrscheinlich nicht, dass ich eine kleine Rettungsaktion starten musste, um den Scrum-Experten vor der Kreuzigung zu bewahren. Genauso wenig überraschend dürfte es sein, dass sein Schicksal durch die wenig respektvolle Infragestellung, ja Verwerfung all dessen besiegelt war, was den anwesenden Personen wichtig war – und worauf sie nicht zuletzt ihr persönliches Selbstverständnis und ihre professionelle Identität bauten. Schlimmer noch: Durch