„Und was ist wichtig?“, fragte ich.
„Ein gutes Leben zu führen.“
„Und was ist ein gutes Leben?“
Heather schwieg wieder lange. Dann meinte sie, dass sie darauf noch keine überzeugende Antwort gefunden habe. Immer dann, wenn sie glaube, dass ihr dies gelungen sei, zerbrösle die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben nach einiger Zeit an der Wirklichkeit.
„Aber ich denke viel darüber nach und arbeite daran“, versicherte mir Heather lachend. „Am Ende findet sich vielleicht eine Antwort, die haltbar ist.“
›Am Ende?‹, fragte ich mich etwas erstaunt, sagte aber nichts, und da es Heather fröstelte, gingen wir rasch in unsere Herberge und verabredeten uns für den kommenden Tag.
5. Kapitel
Das Grenzland
Geweckt vom Gekrächze eines Pfaus, stand ich sehr früh auf, packte sorgfältig meine Sachen und ging in den Frühstücksraum. Die Tische waren spärlich besetzt, auch Heather fehlte noch. Also nahm ich an einem der leeren Tische Platz und versorgte mich am Buffet mit einem üppigen englischen Frühstück. Allmählich füllte sich der Raum, und der beredten Stille folgte ein allgemeines Geschnatter. Dann endlich erschien auch Heather, und ehe sie sich am Buffet bediente, kam sie an meinen Tisch, wünschte mir einen guten Morgen und legte ihren Zimmerschlüssel auf den Sessel.
Die Gespräche im Frühstücksraum changierten zwischen dem gestrigen Lagerfeuer, dem Unwetter vor wenigen Tagen und der baldigen Abreise. Nach und nach verließen die Freunde und Bekannten der letzten zwei Wochen wieder den Raum, nachdem sie sich zuvor Hände schüttelnd oder einander umarmend verabschiedet hatten. Auch für mich war es Zeit geworden, einigen Lebe wohl! zu sagen und zu gehen. Während Heather noch sitzen blieb und zu Ende aß, parkte ich mein Wohnmobil etwas abseits unter einer riesigen Ulme und informierte die Verwaltung des Schlosses, dass ich nach etwa zehn Tagen wieder zurück sein werde. Danach holte ich meine Sachen aus dem Zimmer und ging zum Parkplatz, wo Heather bereits vor ihrem Auto auf mich wartete. Nicht überraschend, öffnete ich die falsche Tür zum Beifahrersitz. Während Heather über meinen Irrtum schmunzelte, schüttelte ich ein wenig seufzend den Kopf. Dann endlich befand sich alles am richtigen Platz, und wir fuhren Richtung Norden.
Die Reise führte uns zunächst auf kleinen Straßen durch ein Spalier aus Bäumen und gelegentlich durch kleine Auwälder. In der Nähe des Schlosses waren an einigen Stellen die Kronen der Bäume über die Straße gewachsen, sodass wir durch einen grünen Tunnel hindurchfuhren. Oben an der Tunneldecke strahlte ein schmaler, blauer oder blaugrauer Streifen Licht. Den Besitz von Castle Howard verließen wir durch eine Schatten spendende Allee mit dutzenden Silberpappeln.
„Vom Auto aus scheinen sie den Himmel zu kämmen“, meinte Heather.
Da gerade ein heftiger Wind wehte, zeigten die Blätter ihre silbrige Unterseite, und die Allee verfärbte sich von einem satten Grün in ein flirrendes Silber. Je weiter wir uns vom Schlosspark entfernten, desto offener wurde das Land. Sobald die Straße über einen kleinen Hügel führte, wurden wir Zeugen dessen, wofür England auch so berühmt ist: die durch Hecken begrenzten, schachbrettartig angelegten Felder und Viehweiden. Wenn in ihnen jeweils andere Pflanzen wuchsen, glaubte man, auf ein riesiges Mosaik oder gar auf eine grandiose Einlegearbeit zu schauen. Einmal sahen wir ein Feld, auf dem ausschließlich blaue Pflanzen gediehen, wahrscheinlich eine besondere Kleeart, oder aber ein blauer, spät blühender Raps.
Je näher wir der schottischen Grenze kamen, umso seltener wurden die Wälder, bis sie schließlich fast gänzlich verschwanden. Noch deutlicher war an den Hecken zu erkennen, dass wir nach Norden unterwegs waren. Denn während im Süden der Insel praktisch alle Hecken aus Büschen – oft Hainbuchen – bestanden, vollzog sich seit geraumer Zeit der Übergang von der Buschhecke zur Steinmauer.
Steinwälle haben gegenüber Pflanzenhecken den Vorteil, dass sie den Feldfrüchten einen besseren Windschutz bieten. Außerdem wurde durch den Bau der kleinen Steinmauern der karge Boden teilweise von Steinen befreit und erlaubte somit eher den Einsatz von Maschinen. Auf den Mauern lagen oft besonders spitze Steine, manchmal waren sogar Ton- oder Glasscherben einbetoniert. Offensichtlich sollte auf diese Weise eine unüberwindliche Barriere für andere Lebewesen geschaffen werden.
Rechts und links von der Straße waren gelegentlich, oft bis zum Horizont reichend, fast ebene, maschinengerecht aufbereitete Felder zu sehen. Einige Golfplätze mit ihren mit Sand gefüllten bunkers unterbrachen die Felder- und Weidelandschaft. Zuweilen führte die Straße jedoch an steilen Hügeln vorbei, die keine landwirtschaftliche Nutzung erlaubten. Am Fuße dieser Hügel wuchsen oft gelb blühende Ginsterbüsche oder ganze Rhododendrenhaine, die zuweilen den gesamten Hügel zu umgürten schienen. Rhododendren blühten umso häufiger, je weiter wir nach Norden kamen. Also auch daran – und nicht nur an den Steinwällen – war der gleitende Übergang von Süd nach Nord, vom Norden Englands in den Süden Schottlands deutlich zu erkennen.
Auf manchen Hügelspitzen waren Antennenanlagen errichtet, die wohl militärischen Zwecken dienten, möglicherweise der U-Boot-Überwachung. Unterhalb dieser riesigen Spinnennetze aus Stahl gediehen oft mächtige, weithin sichtbare Solitärbäume als natürliche Wegmarken. Die Hänge landwirtschaftlich nicht genutzter Hügel sind das bevorzugte Zuhause von Dachsen, den märchenhaften Meistern Grimmbart.
Auf unserer Reise nach Norden kamen wir an vielen alten Pubs vorbei, deren Außenfront oft zur Gänze mit Efeu bewachsen war. Zumindest an Wochenenden sind sie der allgemeine Treffpunkt für Menschen der Umgebung, auch für Familien mit ihren Kindern, wie die vielen, an die Pubs angrenzenden Kinderspielplätze vermuten lassen. Einmal waren neben dem Pub sogar Hagelnetze gespannt, die im Sonnenlicht silbrig glänzten und weithin sichtbar waren. Vermutlich experimentierte hier ein englischer Exzentriker mit kälteresistenteren Weinreben.
Heather schien das Autofahren sehr zu genießen. Sie fuhr überaus konzentriert und eher langsam. Neue Reiseeindrücke – etwa eine Waschbärenfamilie, die die Straße überquerte – quittierte sie mit Begeisterung. Wie gewohnt, sprachen wir, wenn wir uns mit anderem beschäftigten, fast nichts, oder wenn, dann nur über Dinge, die wir unmittelbar wahrnahmen oder empfanden. Da aber auch die vergangenen zwei Wochen in meinem Kopf umherspukten, fragte ich Heather dann doch, wie ihr das Seminar in Castle Howard gefallen habe. Sie schien ein wenig erstaunt und erlebte diese Frage zu diesem Zeitpunkt wohl als ziemlich unpassend. Dennoch überlegte sie eine Zeitlang und war offenbar in ein Gespräch mit einem unsichtbaren Partner verwickelt, was ich aus dem häufigen leichten Schütteln ihres Kopfes schloss. Schließlich meinte sie, dass der Aufenthalt in einem englischen Park für sie eine Erholung gewesen sei, da weit weg vom üblichen ökonomischen Zwang nach Begradigung, und dass dies für sie auch eine Reise in die Vergangenheit gewesen sei. Denn früher einmal, so meinte sie, als Menschen noch nicht in umfassender Weise begonnen hatten, das Land nach eigenen Interessen zu gestalten und urbar zu machen, war die Gegend hier voller Moore und, wegen des Wildverbisses, parkähnlich gewesen.
„Aber ein englischer Park ist doch nicht einfach natürlich, sondern – im besten Fall – ein Kunstprodukt des Menschen!?“
„Gewiss. Aber ich sagte auch nur parkähnlich.“
Angesichts ihrer ziemlich kryptischen Bemerkungen wollte ich nachfragen, was sie denn unter ›Erholung vom Zwang nach Begradigung‹ verstehe. Aber noch ehe ich die Frage formulieren konnte, bat sie mich, unser Gespräch auf später zu verschieben, möchte sie sich doch ganz auf das Autofahren und das Genießen der Landschaft konzentrieren.
Somit schwiegen wir wieder und nahmen die Reiseeindrücke ohne weitere Kommentare in uns auf. Je länger wir unterwegs waren, umso deutlicher wurde mir bewusst, wie ungelegen meine letzte Frage doch eigentlich gewesen sei. Also entschuldigte ich mich dafür.
„Aber das macht doch nichts. Sollen wir in Berwick, der nördlichsten Stadt Englands, eine Rast machen?“