In den folgenden Tagen nahm auch Heather gelegentlich an den Diskussionen teil. Sie stellte aber bloß Fragen, nie bezog sie eine Gegenposition. Nur einmal, als wir alle mit großer Zustimmung über die Organisation Friends of the Earth sprachen, äußerte sie bezüglich des Namens ›Freunde der Erde‹ auch leise Bedenken.
Langsam hatte sich herauskristallisiert, mit welchen Erwartungen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dem Phänomen english garden begegneten: Für Briten waren diese Parks eine Selbstverständlichkeit, mit der sie groß geworden waren, weshalb sie ihre Kenntnisse vor allem vertiefen wollten. Für andere waren englische Gärten indes zumeist etwas durchaus Exotisches, das sie zunächst einmal näher kennenlernen wollten. Deshalb waren auch die geäußerten Fragen recht unterschiedlich: Während eine gebürtige Engländerin beispielsweise wissen wollte, warum in viktorianischer Zeit doch wieder formale, geometrische Elemente Eingang in die Konzeption der englischen Landschaftsarchitektur gefunden hatten, wollten andere wissen, worin das Charakteristische der englischen Gartenkunst überhaupt bestehe. Sehr wahrscheinlich fühlte sich die eine Gruppe entweder gelangweilt oder aber überfordert, wenn sich zu einer speziellen Frage eine lange Debatte entwickelte. Aber manche Nicht-Briten, vor allem Deutschsprachige, suchten den Kontakt mit den bereits besser Informierten, indem sie nach der Veranstaltung die Diskutierenden aufsuchten und fragten, wie sie das Gesagte genau gemeint hätten und ob sie ihnen das nochmals erklären könnten. Dabei schienen sie stets auf großes Verständnis zu stoßen.
Auch ich nahm an den Debatten eher selten teil und beschränkte meine Aufmerksamkeit aufs Zuhören und darauf, die Dynamik der Gruppe zu verstehen. Heather sprach ebenfalls wenig, wirkte allerdings hochkonzentriert und schien deshalb auch oft erschöpft zu sein. Üblicherweise zog sie sich dann rasch in ihr Zimmer zurück. Sobald sie sich verabschiedet hatte, war auch mein Interesse an der Gruppe eher gedämpft, und ich pflegte zunächst auf mein Zimmer zu gehen, um mich ein wenig zu erholen und dann nach Erfrischung im Park zu suchen.
Bei solchen, oft stundenlangen Spaziergängen hatte ich mir angewöhnt, den fokussierten Blick bisweilen durch einen unkonzentrierten, ungebündelten zu ergänzen. Dann suchte ich einen Sitzplatz auf und betrachtete die Welt gleichsam aus den Augenwinkeln. Auf diese Weise weitete sich der Blick zu einem Schauen, das das Meiste nur noch unscharf wahrnahm, aber insgesamt weit mehr zu erfassen vermochte. Dieser ›blicklose Blick‹ wurde für mich zu einer Form des Sehens, die sonderbarerweise unabhängiger von Wünschen und Interessen zu sein scheint. Weil bei einem solchen Schauen die Konzentration nicht auf etwas Besonderes gerichtet war, nahm ich aus den Augenwinkeln heraus ein weites, verschwommenes, ungegenständliches Panorama voller Farben und schemenhafter Gegenstände wahr. Auch das Bewusstsein schien sich unter diesen Umständen von Analyse und Beobachtung und Zielgerichtetheit auf einfaches Registrieren und Gewährenlassen umzustellen, vielleicht sogar auf eine Form von behutsamer Nähe.
Das klingt wahrscheinlich um einiges interessanter, als es tatsächlich ist, und sehr gut gelang mir dies alles zwar nicht, aber immerhin. Versucht man seine Aufmerksamkeit, etwa durch diese Form der ›Kurzsichtigkeit‹, auf das Hier und Jetzt zu richten, bewirkt diese Offenheit, so meine Erfahrung, fast unweigerlich eine Freisetzung positiver Empfindungen, oft sogar eine stille Zufriedenheit. Gelegentlich, wenn direkt vor mir ein Ensemble an Farben zu sehen und das Singen der Vögel oder das Quaken der Frösche zu hören war, durchströmte mich ein schwaches Glücksgefühl, als ob der gesamte Körper atmete. Da man Glück aber wohl nur dann empfinden kann, wenn man ein Ziel erreicht hat, nach dem man sich gesehnt hatte, so ist es gerade der Wunsch, den Dingen, wie sie sind, näher zu sein, den ich mir auf diese völlig harmlose Weise erfüllte.
Es scheint ein Ich zu geben, das sehr auf Distanz bedacht ist, das gerne analysiert und reflektiert und sich auch als Objekt zu sehen vermag. Aber daneben gibt es offenbar ein Ich, das sich in seinem Gefühlshaushalt zu einem großen Teil aus Beziehungen zu anderen Lebewesen bestimmt. Das Antlitz des Menschen leiht sich das Lächeln und die Tränen vom Antlitz des [anderen] Menschen, wusste schon Horaz. Dieses ›Beziehungs-Ich‹ will sich als Teil der Umgebung dieser zugehörig fühlen. Wenn ich diese emotionale Nähe über längere Zeit nicht verspüre, dann werde ich – und dies gilt wohl für die allermeisten von uns – melancholisch. Die Bereitschaft, die Welt auch aus den Augenwinkeln heraus zu sehen und damit Fremdes in eher meditativer Weise in sich aufzunehmen und zuzulassen, bewirkt eben oftmals ein kaum wahrnehmbares Gefühl des Wohlbehagens.
Natürlich hatte ich bei meinen langen Spaziergängen gehofft, irgendwann einmal Heather zu begegnen. Aber sie schien mit ihrem Auto eher die nähere Umgebung des Schlosses als den Park selbst erkunden zu wollen. Einmal jedoch, als das Seminar schon fast zu Ende war, sah ich sie im Park, allein am Boden einer Brücke sitzend. Sie hatte ihre Arme lässig auf das Geländer gelegt und schaute auf das darunter liegende Wasser. Ihre Beine baumelten von der Brückenmauer langsam hin und her.
Ich begrüßte sie und fragte, ob sie ins Wasser schaue, um Fische zu beobachten.
„Nein, nein“, entgegnete sie lachend. „Ich beobachte im Wasser die dahinziehenden Schäfchenwolken. Ich habe dann den Eindruck, als säße ich in einem Flugzeug und schaute auf eine Welt voll weißer Inseln.“
„Darf ich mich ein wenig zu dir ins Flugzeug setzen?“, fragte ich.
Heather lachte, blickte über ihre Schulter und gab mir mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass ich durchaus willkommen sei. Ohne es bewusst zu wollen, setzte ich mich so nahe zu ihr, dass ich ihren Atem auf meiner Wange spürte, wenn sie sprach und sich zu mir drehte, während ich auf den kleinen See schaute. Es fühlte sich an, als ob ein sanfter Strahl warmer Luft mir von der Seite ins Gesicht blies. Zum ersten Mal nahm ich wahr, was ich offensichtlich schon die ganze Zeit über gesehen hatte, dass ihr Gesicht nämlich voll kleiner Sommersprossen war und dass sich in der linken Pupille ein winziger, schwarzer Fleck befand. Aber wie von unsichtbarer Hand geleitet, rückten wir nach einigen Minuten praktisch gleichzeitig wieder auseinander und saßen schweigend da, ein wenig verlegen auf das Wasser schauend.
Zum Glück erinnerte ich mich an einen ihrer Diskussionsbeiträge, die Organisation Friends of the Earth betreffend. Damals hatte sie die Meinung vertreten, dass es ihr nicht leicht falle, sich ›Freundin der Erde‹ zu nennen; und dass sie sich zwar als Teil der Natur empfinde, gelegentlich aber auch als Fremde.
„Wann erlebst du dich eigentlich als Fremde?“, fragte ich Heather nun mit ehrlicher Neugierde und konnte so nahtlos an Gespräche während des Symposiums anknüpfen.
„Wenn ich beispielsweise in ein Krankenhaus gehe oder wenn ich die Nachrichten höre und von einem Tsunami oder Erdbeben berichtet wird. Dann fühle ich mich als Fremde.“
„Und warum?“
„Weil ich solche Tatzenhiebe der Natur nur schwer ertragen kann. Hätte ich die Macht, so ließe ich Derartiges keinesfalls zu und griffe ein. Da ich mir also eine bessere Welt als diese problemlos vorstellen kann, werde ich mich immer auch fremd auf dieser Erde fühlen. Unter der Oberfläche pulsiert das blinde Schicksal mit all seinen Ungerechtigkeiten, während wir frisch und fröhlich unsere großen Pläne schmieden. Dabei brauchen wir gar nicht weit zu schauen, um uns diese Abhängigkeit vom Zufall zu vergegenwärtigen: Ein naher Erdrutsch in der Nacht ist ein derart unheimliches Geschehen, das uns sogleich daran erinnert, dass die Natur auch immer etwas Bedrohliches an sich hat.“
„Oder die bange Ahnung alles Lebendigen vor einem heftigen Unwetter“, warf ich ein.
„Eben.