Dalriada. Gerhard Streminger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Streminger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701179718
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Menschen und versuchte, mir erst einmal einen groben Überblick zu verschaffen. Indem ich meinen Blick auf nichts Bestimmtes fixierte, sondern frei schweifen ließ, wollte ich zunächst einmal die allgemeine Stimmung erkunden, was mir aber nur mäßig gelang. Denn offensichtlich war ich zu aufgewühlt und schaute mich alsbald suchend um, nach Heather.

      Zumeist standen die Kommilitonen in kleinen Gruppen mit jenen zusammen, deren Nähe sie schon seit geraumer Zeit zu schätzen gelernt hatten. Endlich fand ich sie, die etwas abseits von den anderen, nahe dem kleinen Wald stand. Heather hatte ihre Haare aufgesteckt, sodass ich erstmals ihr Gesicht zur Gänze sehen konnte. Ihre ebenmäßige Nase, ihr schwanenweißer Halsrücken und ihre sinnlichen, blassrosa gefärbten Lippen vollendeten das erotische Fluidum, das sie ohnedies schon auf mich ausstrahlte. Gekleidet war sie mit einer grauschwarzen Bluse und, dazu passend, einem dunkelroten Trägerkleid mit Wellensaum.

      Heather war gerade tief in ein Gespräch mit Józef verwickelt, oder besser gesagt: er mit ihr. Józef stammte aus Krakau und war schon seit geraumer Zeit so etwas wie ein Unruheherd in der Gruppe. Dabei war es keineswegs Bösartigkeit seinerseits, die Unbehagen bereitete, ganz im Gegenteil: Józef mit dem leichten Silberblick wirkte bemerkenswert unaggressiv, fast liebenswürdig. Aber er fühlte sich in dieser Umgebung offenbar extrem unsicher, und diese Unsicherheit äußerte sich darin, dass er jede Stille zu vermeiden suchte. Wenn also Ruhe drohte, erhob er sogleich seine Stimme und begann unkontrolliert zu assoziieren. Als wir uns beispielsweise den Unterschied zwischen den emporstrebenden Zypressen und den eher zum Horizont gerichteten fächerförmigen Kronen der Pinien klar machen wollten und es zu einer kurzen Nachdenkphase gekommen war, begann Józef aus dem Nichts heraus zu kombinieren. Er verglich den Gegensatz zwischen Zypressen und Pinien mit dem zwischen gotischen und barocken Kirchen. Dieser überraschende, durchaus anregende Vergleich wurde aber, noch ehe er durch eine eingehende Diskussion vertieft werden konnte, von ihm erweitert durch die Tafelberge in Arizona, durch die vorbildlichen Hochhäuser in Chicago, durch den islamistischen Angriff auf die vertikalen Zwillingstürme in New York, durch die Hochzeitstorte bei der Vermählung seiner Schwester, an der 130 Personen aus ganz Polen teilgenommen hatten, die allesamt, als Höhepunkt, dem Papst ein Grußtelegramm schickten.

      Spätestens bei der Nennung des Namens des Stellvertreters Gottes auf Erden lehnten sich die meisten zurück und starrten genervt in die Leere. Aber diese Ablehnung verunsicherte Józef nur noch mehr, und seine Phantasie begann noch wildere Beziehungen zwischen hoch und breit zu erfinden. Spätestens dann war die Kursleiterin gefragt, der es mit dem Hinweis, dass dies wirklich sehr interessante Vergleiche seien, tatsächlich gelang, Józefs Flüge einer erhitzten Einbildungskraft erst einmal zur Landung zu bringen. Der Pilot saß nun etwas erschöpft und verstört da, meldete sich aber mit einem Das muss ich noch schnell sagen alsbald wieder zu Wort, wurde nun aber gebeten, seine Bemerkungen auf den nächsten Tag zu verschieben, was dieser überraschenderweise auch zur Kenntnis nahm.

      Ein Unruheherd also war Józef, dessen Gedankenfunken nach allen Seiten sprühten, die zwar zumeist lästig, aber doch völlig harmlos und niemals verletzend gemeint waren. Dieser polnische Hitzkopf hatte also Heather in Beschlag genommen, sprach erbarmungslos auf sie ein und kam ihr dabei, wohl ohne es zu merken, räumlich immer näher. Während er wie ein oberflächlicher Poseur vor ihr herumtänzelte, hielt sie das Glas Champagner als Schutz vor ihren Körper. ­Jósefs waberndes Gerede konnte ich zwar nicht verstehen, aber aufgrund seiner üblichen Geschwätzigkeit kochte in mir ein leichter Ekel hoch und ein gerüttelt Maß an Eifersucht obendrein. In meinem Kopf tauchte das Bild eines Lamas auf, das sein Gegenüber ebenfalls mit halbverdauter Nahrung zu bespucken beliebt. Da Józef, wie gewohnt, durch Heathers distanziertes Verhalten nur noch unsicherer wurde, wandte er sich auch anderen Frauen zu, um wenigstens von dort die gesuchte Bestätigung zu finden.

      Aber nun ergriff ich rasch die Initiative, eilte zu Heather und schlug ihr vor, uns in der Nähe auf eine Bank zu setzen, und zwar auf eine solche, die keinen Platz mehr für andere ließ. Dabei ertappte ich mich, dass ich sie zunächst in der Affektsprache, also im gewohnten und in der Kindheit üblichen Dialekt ansprach, und erst einige Sekunden später Worte in der englischen Hochsprache fand.

      Auf einer kleinen Bank sitzend, verbrachten wir gemeinsam in Muße den Rest des Abends. Zumeist schwiegen wir und nippten an unseren Gläsern Champagner, lauschten dem Gemurmel der anderen und genossen die einsetzende Dämmerung. Manchmal teilten wir einander mit, was wir gerade sahen oder hörten oder schmeckten. So sprachen wir über die Güte des Schaumweins, oder über die Lampions, die wie kleine Sonnen einen kugelförmigen Raum von einigen Metern Durchmesser ausleuchteten, oder über den Wind, der in die Seidenbluse einer Kursteilnehmerin gefahren war und sie schrill hatte auflachen lassen, oder wir erzählten einander vom Widerschein der Flammen des Lagerfeuers in den Ästen der Bäume.

      Einige Osteuropäer hatten Volkslieder angestimmt, deren melancholische Melodien mich zum Teil tief berührten: Die Sänger und Sängerinnen, wovon eine ihre Finger wie auf einer unsichtbaren Harfe bewegte, hatten an einer bestimmten Stelle des Lieds gemeinsam eine Zeitlang einen bestimmten Mollakkords angehalten, den sie dann im Dreischritt in die Tiefe stürzen ließen. Die meiste Zeit nahmen Heather und ich zumeist nur durch unser Lächeln an der allgemeinen Stimmung teil. Als jedoch diese immer ausgelassener und mir zu laut wurde, schlug ich vor, einen Spaziergang zum neuen Arboretum zu machen.

      Von den meisten wurde unser Aufbruch gar nicht bemerkt, einige schauten uns etwas verdutzt an. Von diesen verabschiedeten wir uns und vertrösteten sie auf den nächsten Morgen. Anschließend spazierten wir durch den Park, bestaunten im Mondlicht die Bäume, die nur noch als Silhouette zu erkennen waren. Die ganze Gegend aus Feldern und Hügeln, die untertags voll prallen Lebens war, war nur noch wie auf einem riesigen Scherenschnitt zu sehen, und auch das nur für kurze Zeit. Einige Minuten zuvor waren noch zu viele Einzelheiten zu erkennen gewesen, einige Minuten danach zu wenige.

      Im neu errichteten Arboretum, in dem viele der wichtigsten noch lebenden Bäume gesammelt werden sollen, wanderten wir von einem dieser Ehrfurcht gebietenden Lebewesen zum nächsten. Dazwischen kam immer wieder der Mond hinter dem vorbeiwandelnden Gewölk hervor und spendete genügend Licht zur Orientierung. Da ich mich schon daran gewöhnt hatte, dass Heather und ich wenig miteinander sprachen, war ich bass erstaunt, als sie mich plötzlich fragte, woher ich denn genau käme.

      „Aus den Alpen.“

      Sie schien überrascht, und da sie diese Landschaft noch nie besucht hatte, musste ich ihr detailliert schildern, wie es dort, also bei mir zu Hause aussieht.

      „Und wie sind die Alpen entstanden?“, fragte sie dann.

      Nachdem ich ihr von der Hebung des Bodens aufgrund der Kontinentalverschiebung erzählt hatte, meinte sie:

      „Aha, du kommst also aus den Eingeweiden der Erde.“

      Nach einem herzhaften Gelächter bestaunten wir entspannt die unregelmäßigen Umrisse einer alten Eiche. Da­rauf hin erzählte ich Heather, dass ich nach dem Seminar eine Reise in die schottischen Highlands unternehmen wolle, und ich ersuchte sie um einige Tipps.

      „Du solltest unbedingt auf die Insel …“

      Dann stockte sie und knabberte an ihrer Unterlippe. Wieder vergingen Minuten, in denen wir schweigend nebeneinander hergingen. Nur einmal schaute ich sie etwas fragend an und zog die Augenbrauen ein wenig hoch. Plötzlich fragte sie mich, ob es mir ungelegen sei, wenn sie mich auf diese Reise begleite. Dazu fiel mir Esel nun nichts Besseres ein, als mich zu erkundigen, ob sie denn überhaupt Zeit dazu hätte.

      „Ja, ich wohne in Edinburgh, arbeite im Institut für Schottische Studien und fahre zumindest zweimal pro Jahr in die Highlands.“

      „Und warum?“

      „Weil ich dort geboren bin, aber vor allem aus Forschungsgründen. Oft sind es ganz konkrete Fragen, wie etwa die Lage eines alten Dorfes, die ich klären muss. Zudem gibt es einige persönliche Gründe: Für Heiden galt die Natur – und nicht der Schöpfer derselben – noch als allmächtig. Heutzutage denken die Menschen anders, aber die Natur ist immer noch gewaltig. Das möchte ich unmittelbarer als in der Stadt erleben, um auf diese Weise vieles, was vergangen ist, besser verstehen zu können. Durch solche Ausflüge, so meine Erfahrung, wird auch mein Kopf wieder