Neben den Vorträgen und Diskussionen gab es gelegentlich kleinere Tests, um das Erarbeitete in konzentrierter Form zu rekonstruieren. Der erste Test handelte von eben jenen Gärten der Medici. Gefragt war, was das Typische der Gartenkunst zur Zeit der Renaissance gewesen sei. Zunächst gab es zur Beantwortung dieser Frage keinerlei Zeitlimit, wir konnten also so lange schreiben, wie es uns beliebte. Dann aber bestand die Aufgabe darin, die gestellte Frage mit 1.000 Worten zu beantworten, und schließlich mit … 200. Durch diesen äußeren Druck, so die Kursleiterin, sollte unsere Kreativität angeregt werden.
Wesentliches mit immer weniger Worten auszudrücken, erforderte vor allem sehr viel Nachdenken und ein intensiveres Hantieren mit Möglichkeiten. Aber trotz erheblicher Anstrengung wollte mir keine Formulierung gelingen, die das Charakteristische der Renaissance-Gartenarchitektur prägnant zusammengefasst hätte. Also blickte ich ein wenig ratlos in die Runde, der es zu meiner Erleichterung allerdings ähnlich zu ergehen schien. Mit gesenktem Kopf starrten die Studierenden auf das Papier vor sich oder in die Luft.
Nur Heather saß ungewohnt kerzengerade da, dachte offensichtlich intensiv nach, ohne die Stirn zu runzeln oder auf ihre Unterlippe zu beißen, und sie ließ ihren Blick schweifen, ohne ihn zu fixieren – und so trafen sie sich, ihr Blick und meiner. Aus Gründen der Höflichkeit wollte ich sogleich wieder wegschauen, aber wie gebannt starrte ich weiter in dieselbe Richtung. Auch Heather schien nun konzentriert zu beobachten, jedenfalls waren ihre grünlich-braunen Pupillen auffallend schmal geformt, und sie schienen bis zum oberen und unteren Augenrand zu reichen. Ungewohnt viel Weiß war deshalb in ihren Augen zu sehen – etwas, das es fast nur bei Primaten und, besonders ausgeprägt, bei uns Menschen zu geben scheint. Vielleicht ist dieses Mehr an Weiß in den Augen kein Zufall, sondern das Ergebnis einer langen Evolution – entstanden aus der Dringlichkeit heraus, die komplexe Gemütslage anderer Menschen unmittelbarerer erfassen zu können. Dieser spezielle Augapfel könnte also den Vorteil haben, andere leichter zu verstehen und mit ihnen besser kommunizieren zu können. Ob dieser Gedanke richtig ist, weiß ich nicht, aber auf alle Fälle kreuzten sich Heathers Blick und meiner wohl den Bruchteil einer Sekunde zu lang. Denn wie mir bald bewusst wurde, begann damals eine zärtliche und schmerzhafte Nähe zu einem außergewöhnlichen Menschen.
Obwohl ich mich zuerst ein wenig beschwipst fühlte, schien dieser Augenkontakt wie ein Siedesteinchen zu wirken, das man ins heiße Wasser wirft, um die Spannungen zu lösen und das Wasser zum Kochen zu bringen. Denn beinahe augenblicklich fiel mir eine Antwort auf die besagte Frage ein, die ich als durchaus treffend empfand.
3. Kapitel
Die Heide, so nah
Hochgestimmt verbrachte ich den Abend allein, spazierte lange durch den Park und schließlich zum Temple of the Four Winds. Dieser erinnerte mich allerdings an den obersten Teil eines barocken Glockenturms mit einem Gerüst davor. Ich empfand es daher als durchaus angenehm, bereits nach wenigen Schritten von der Einzäunung weg wieder frei in die Landschaft blicken zu können. Da mein Kopf ansonsten voll erlesener Eindrücke war, genoss ich diesen Erkundungsspaziergang besonders: Während auf verschlungenen Pfaden der einen großartigen Naturkulisse die andere folgte, wogten meine Gedanken hin und her und ergänzten das Gesehene gelegentlich noch mit Vorstellungen und Träumereien.
So imaginierte ich eine einsame Eiche in der Wiese vor mir, die ihre Äste besonders weit ausgebreitet hatte, als blattlos im Raureif vor blauem Himmel. Ihre Äste wurden so zu riesigen Armen, die nach der Nähe anderer suchten. Ein Gärtner hatte mir einmal erzählt, dass er zwar noch nie verreist sei, dass ihm aber bei seiner Arbeit die verschiedenen Zyklen der Natur praktisch immer unmittelbar präsent seien. Denn er müsse räumlich und zeitlich vorausschauend und, wie er es nannte, ins Gleichgewicht setzend durch den Park gehen und handeln. Ständig erlebe er so die großen Zusammenhänge zwischen Regen, Sonne, Schnee, Steinen, Pflanzen, Erde und Wind. Gärtnern sei, so meinte er abschließend, ehe er mit seinem Schubkarren vom Hauptweg abbog und im Dickicht verschwand, eine lebenslange Übung im Werden und in Bescheidenheit. Gelegentlich konnte ich ihn und dieses spezielle Wissen über die natürlichen Lebenszyklen, so hoffe ich jedenfalls, recht gut verstehen.
Besonders wohl fühlte ich mich an einem der kleinen, etwas vom Schloss entfernten Weiher, wo ich noch am ersten Tag meinen Lieblingsplatz für die nächsten zwei Wochen gefunden hatte. Der Teich lag ein wenig hinter Büschen und Bäumen versteckt, und zu ihm führte auch kein Brezelweg wie zu den kleinen Seen nahe dem Schloss. Solche Brezelwege sind unnötig geschlungen, und ihre Funktion dürfte allein darin bestehen, dass die Kindermädchen mit den ihnen anvertrauten jungen Herrschaften in den Kinderwägen nicht auf schnellstem Wege von a nach b gelangen. Vielmehr sollten sie sich eine Zeitlang außer Haus, aber in Sichtweite des Schlosses aufhalten.
Mein Lieblingsplatz also, an dem ich mich fast täglich aufhielt, lag an einem kleinen Teich, der nicht nur von Büschen und Bäumen, sondern auch noch von einem dichten Schilfgürtel umgeben war. Dieser beherbergte mindestens eine Familie schwarzer Blesshühner. Da der Weiher in einer kleinen, daher relativ windgeschützten Senke lag, konnte man das seltsame Knistern des Schilfes nur selten hören. Einmal wogte ein einzelnes Schilfgras im Lufthauch hin und her, während alle anderen Halme reglos wie Soldaten da standen.
Außer Blesshühnern sah ich seltene Eisvögel, die kleinen blauen Juwelen der Lüfte, die nach Insekten und Fischen jagten, und ich hörte einmal – leicht gespenstisch – knapp hinter mir einen Hasen oder ein Kaninchen hingebungsvoll Gras fressen. Das kleine Lebewesen kam mir so nahe, dass ich es deutlich atmen hörte. Ein andermal musterten mich einige Libellen mit ihren knisternden Flügelschlägen und machten nur wenige Zentimeter vor meinen Augen Halt; und einmal strampelte ein Fahrrad, bestehend aus zwei Libellen, durch die Lüfte. Als ich an einem Nachmittag recht spät und ziemlich aufgewühlt zu meinem Weiher kam, lullten mich Bienen, die am Teichrand Wasser holten, mit ihrem Summen derart ein, dass ich einschlief. Wenn Bienen von hinten über meinen Kopf flogen, so wurde der Ton ihrer Flügelschläge für kurze Zeit immer höher und dann, wenn sie sich entfernten, rasch wieder tiefer.
Mächtige Bäume, denen man die häufigen Stürme ansah, säumten den kleinen See und spiegelten sich im bräunlichen, algenreichen Wasser. Aufgrund der vielen Blätter war jetzt im Sommer das Skelett der Bäume nicht zu sehen, nur einige abgestorbene Äste ragten wie Peitschen aus dem Grün. Als besonders schön empfand ich es, wenn Efeu, zumeist auf der Schattenseite, sich den alten Bäumen emporgerankt oder Moos sich in den Ritzen der Stämme eingenistet hatte. Solche moosbewachsenen Baumstämme schimmerten in der Dämmerung hellgrün, ähnlich dem Grün der ersten Blätter im Frühjahr von Trauerweiden oder Buchen. Wenn ich mir genügend Zeit gönnte und außerdem die Sonne hell schien, dann sah ich, wie sich die Schatten dieser Riesenbäume langsam über das Wasser ausbreiteten und im Abendlicht den Teich verdunkelten, während die Baumspitzen noch im Sonnenlicht golden glänzten. Wenn auch noch der Wind genau in der richtigen Stärke wehte, dann zitterte das gesamte Wasser des Schilfweihers.
Etwas vom Schloss entfernt, gedieh also ein Stück dichter Urwald, war er auch räumlich sehr begrenzt. Sobald ich mich nach den Vorträgen am Weiher wieder etwas entspannt hatte, begannen die Stimmen der Vögel rasch lauter zu werden. Sobald sie abends, scheinbar ohne Zweck, also aus purer Freude am Singen einfach so drauflos trällerten, klang dies viel gelöster als dann, wenn sie im Frühjahr einen Partner anlocken oder ihr Revier verteidigen wollten. Damals, an den lauen Sommerabenden im Park von Castle Howard, an einem der kleinen Teiche am Rand des Besitzes, sollte aber offenbar niemand angelockt und niemand abgehalten, sondern nur noch Zufriedenheit signalisiert werden.
Je dämmriger es wurde, umso häufiger tauchten Schwalben oder Mauersegler auf: Vor allem abends bei tiefem Luftdruck, wenn Insekten knapp über dem Wasser dahinschwirrten, überflogen sie im Zickzack-Flug auf ihrer Jagd den Park, und ihre leuchtend weißen Bäuche waren weithin zu sehen. Waren Schwalben und Mauersegler verschwunden, so tauchten in der Dämmerung die ersten Fledermäuse auf.
An jenem Tag, als ich diesen Ort entdeckt hatte, vergaß ich vor lauter Eindrücken die Zeit. Als ich mich einmal umdrehte und sah, wie sich auf einige der riesigen