In England besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen diesen alten Autobahnen und den neuen Motorways. ›Motorways‹ sind lärmwandbestückte Rennbahnen wie bei uns, Autobahnen ähneln indes eher zweispurigen Schnellstraßen, mit gelegentlichen Kreuzungen und Kreisverkehren. Befährt man also englische Autobahnen – und keine Motorways –, dann ist die Reise viel weniger monoton, und man sieht eben endlose Häuserzeilen oder schwarz-weiß gescheckte Kühe mit Rieseneutern, die friedlich gleich neben der Autobahn grasen, oder man entdeckt einen Gewerbebetrieb neben dem anderen, aufgefädelt wie auf einer Perlenkette. Einmal sah ich vom Auto aus eine Riesenfabrik mit vielen Gebäuden, alle weiß getüncht. Aber dort, wo die Arbeitenden ein und aus strömten, war der Eingang schwarz bemalt.
2. Kapitel
Wiedersehen mit Castle Howard
Nach einigen eher verwirrenden Verkehrshinweisen fuhr ich am Nachmittag auf einer Nebenstraße etwa 20 Kilometer nördlich von York. Nicht weit von der Straße entfernt, schlängelte sich ein Bach durch einen kleinen Auwald. Plötzlich stand es hinter einer Kurve wie aus dem Nichts vor mir, das Castle Howard mit der Riesenkuppel über dem Hauptgebäude und den beiden mächtigen Gebäudeflügeln. Alles wirkte imposanter als im Film, aber auch noch um einiges klobiger, also keinesfalls so anmutig wie so viele klassizistische Herrenhäuser in England. Bereits die Fassade, typisch für den Barock, war überreich dekoriert. Ich parkte das Auto am Straßenrand und blickte auf eine große Wasserfläche, in der sich Teile des Schlosses widerspiegelten. Schwäne adelten mit ihren würdevollen Bewegungen einen meines Erachtens nicht so übermäßig attraktiven, weil eben viel zu üppig inszenierten Schauplatz. Elstern liefen nervös mit ihren riesigen schwarzen Schwanzfedern, die ständig auf und ab wippten, am Uferrand hin und her, um an geeigneter Stelle Wasser zu trinken. Wenn sie ihren Durst gelöscht hatten, suchten sie rasch wieder das Weite.
Die am Kurs Teilnehmenden waren im Nebengebäude des Schlosses untergebracht – dort, wo auch einige der Bediensteten wohnten. Manche Studierende hatten es indes vorgezogen, in benachbarten Dörfern ein Quartier zu beziehen, und sie kamen nur zu den Veranstaltungen hierher. Ich persönlich genoss jedoch den Blick aus meinem Zimmer auf das große Wasserbassin vor dem Schloss, das von sorgsam geschnittenen Buchsbäumen eingerahmt war. Abends, wenn endlich endgültig Ruhe herrschte, lauschte ich im Bett dem Geplätscher des Wassers im großen Brunnen. Dies ist das Gemurmel der Ahnen, sagte später lächelnd eine Japanerin zu mir, die ihre Europareise mit dem Besuch eben dieses Seminars abschloss. Obwohl ich besonders genau horchte, was sie auch sonst noch zu sagen hatte, fand ich nie heraus, ob sie das ernst gemeint hatte oder mich nur verwirren wollte. Sie einfach zu fragen, mochte ich aber auch nicht, denn dies erschien mir bei diesem Thema doch als zu aufdringlich. Obendrein hätte ich wahrscheinlich ohnedies nur ein weiteres, mysteriöses Lächeln geerntet oder aber den leisen Vorwurf, doch einmal hören zu lernen.
Mit Ausnahme Afrikas waren alle Kontinente mit zumindest einem Bewohner oder einer Bewohnerin am Symposium vertreten, wobei Briten und Deutschsprachige das Gros bildeten. Der erste Vormittag begann mit einer Vorstellungsrunde, die ich als eher unangenehm empfand. Denn in diesem Punkt bin ich offenbar immer noch recht altmodisch und erlebe es als taktlos, wenn Menschen Fremden gegenüber sogleich mehr von sich preisgeben als ihren Namen und das Land, in dem sie geboren wurden oder sich seit geraumer Zeit aufhalten. Ihre Interessen und Vorlieben möchte ich dann doch lieber, wenn überhaupt, erst mit der Zeit und aufgrund von Eigeninitiative erfahren. Aber seit geraumer Zeit scheint es gang und gäbe geworden zu sein, Mitmenschen selbst an Intimem teilhaben zu lassen, ohne sich zu fragen, ob diese das überhaupt wissen wollen oder nicht.
Also ließ ich die verschiedenen Teilentblößungen wie eine kalte Dusche über mich ergehen und kam mir wie ein unhöflicher Exote vor, als ich meine Wortmeldung auf Name und Herkunftsland beschränkte. Zu meiner großen Überraschung schien jedoch eine andere Kursteilnehmerin ähnlich zu denken wie ich. Denn sie sagte nur, als sie an die Reihe kam:
„Heather, aus Schottland.“
Dies ließ mich gespannt aufhorchen und machte sie mir sogleich sympathisch.
Nach der Vorstellungsrunde begann der eigentliche Kurs mit einem Einleitungsreferat über die Geschichte der englischen Gartenkunst. Dabei erfuhren wir, dass sowohl der französische Barockgarten als auch der englische Landschaftspark auf antikes Gedankengut zurückgingen. Im ersten Fall war es der römische und später mittelalterliche hortus conclusus, der ›geschlossene oder eingefriedete Garten‹; und im Fall des englischen Landschaftsparks war es die Idee des Gleichgewichts und der Harmonie, vor allen von den alten Griechen erdacht und gefordert.
Zur Zeit der Renaissance, so spannte die Kursleiterin den historischen Bogen weiter, nahmen italienische Architekten diese griechische Idee der Balance wieder auf. Sie bemühten sich, in ihren Entwürfen ein Gleichmaß zu finden, und zwar ein solches zwischen Park, Gebäude und Landschaft. Eben diese Idee einer Ausgewogenheit wurde dann für die englische Gartenkunst des 18. Jahrhunderts bestimmend. Anders die französischen Barockarchitekten, denen es nicht um eine Harmonie des Parks mit Gebäuden und der ihn umgebenden Landschaft ging, sondern um etwas ganz Anderes, nämlich um die Huldigung des Herrscherwillens und um die Erinnerung an das verlorene Paradies.
Im ehemaligen Garten Eden, so die Annahme der französischen Barockarchitekten, habe noch Ordnung und Regelmaß geherrscht. Das Unregelmäßige und Ungeordnete sei hingegen eine Folge des Sündenfalls der ersten Menschen und deren Vertreibung aus dem Paradies. Tatsächlich gibt es in der Natur kein vollkommenes Regelmaß, ausgenommen vielleicht das Licht der untergehenden Sonne und dasjenige des Mondes über dem Wasser. Am deutlichsten nähert sich, von den Gegenständen auf Erden, wohl der Kristall dem Regelmaß, doch dieser ist etwas Totes.
In der französischen Barockarchitektur sollte also an Paradiesisches erinnert werden, und das hieß konkret, der Natur eine unnatürliche Ordnung aufzuzwingen. Da es dementgegen in der englischen Gartenarchitektur nicht um ein theologisches oder gesellschaftliches Thema ging, sondern um die Idee des Gleichgewichts zwischen dem Park und seiner Umgebung, sind english gardens notwendigerweise ortsgebunden. Ihre besondere Gestaltung und Einbettung in die konkrete Landschaft ist, zumindest vom Anspruch her, gerade nicht zufällig. In den französischen Barockgärten ist hingegen die künstlerische Umgestaltung der Landschaft auswechselbar, also gerade nicht notwendig.
Alle diese Informationen nahmen wir mit großem Interesse zur Kenntnis. Aber zumindest so sehr wie die Beschreibungen der Villen und Gärten zur Zeit der Medici beflügelte eine Kursteilnehmerin aus Schottland meine Phantasie. Heather saß zumeist ruhig da, ihre Stirn war etwas nach unten gesenkt – so, als wollte sie die Erde nicht aus den Augen verlieren. Als Folge dieser Köperhaltung blickte sie immer leicht von unten nach oben, und die Pupillen ihrer großen Augen berührten die oberen Augenlider. Ihr dunkelbraunes Haar mit einem leichten Stich ins Rötliche reichte ihr bis zu den Schultern. Ob ihre Haare gefärbt waren, weiß ich nicht, aber in Schottland gibt es viele Kupferdächle, wie man Rothaarige im Schwabenland gelegentlich wohl nennt. Während des Unterrichts hingen Heather manchmal einige Haarsträhnen ins Gesicht, und ihre Augen blitzten hinter einem schütteren Vorhang hervor. Einmal verbarg sie Teile ihres Gesichts noch zusätzlich hinter einem breiten Seidenschal, den sie sich locker um den Hals gebunden hatte.
Oft warf ich einen verstohlenen Blick auf sie, besonders dann, wenn Heather sich auf das Schreiben konzentrierte. Aber es war nicht nur Faszination, die ich empfand, sondern ich verspürte auch eine ganz leichte Abwehrhaltung – wohl deshalb, weil mir nicht klar war, ob diese rehartige Scheue, die sie an den Tag legte, natürlich war oder aber bewusst eingesetzt wurde, um auf andere interessant zu wirken.
Die Vorträge wurden durch mehrere, häufig von der Kursleiterin selbst angeregte Diskussionen unterbrochen. Zumeist ging es in diesen Gesprächsrunden darum, vertiefende Informationen zu erfragen oder aber Einwände gemeinsam gegeneinander abzuwägen: ›Wie hatten die englischen Landschaftsarchitekten eigentlich die Ideen der italienischen Renaissance kennengelernt?‹, lautete eine dieser Fragen, die eifrig debattiert wurde. Der Hinweis auf die Grand Tour, also jene übliche Bildungsreise junger englischer Adeliger im 18. Jahrhundert zu den großen Wirkstätten der Antike, war