»Diese vermaledeite Tür!«
Und mit diesen Worten stürzten sie gleichzeitig aus der Küche und den Gartenweg hinunter. Als sie über den Friedhof zur Kirche rannten, entdeckte Frank das Licht.
»Das habe ich ganz sicher nicht angelassen!«, rief Margaret. »Das muss er angemacht haben.«
Innerhalb von Sekunden waren sie an dem großen Portal, und Frank griff nach dem Eisenring, mit dem der Riegel der uralten Tür geöffnet wurde. Seltsamerweise funktionierte das von außen tadellos, aber von innen musste man genau den richtigen Dreh heraushaben. Warum um Himmels willen hatte sie Neil das nicht besser erklärt?
Sie stürzten praktisch gleichzeitig durch das alte Portal in die Kirche, aber ihr Rufen traf auf absolute Stille. Neil war nirgends zu sehen. Es brannte zwar ein kleines Licht, aber die Kirche war leer.
»Vielleicht ist er ja in der Sakristei«, meinte Frank. »Ich geh und schau nach.«
»Frank«, sagte Margaret jetzt nur noch flüsternd. »Was ist das für ein Geräusch?«
Frank blieb stehen, legte den Kopf ein bisschen schräg und horchte intensiv.
»Was auch immer es ist, es kommt von irgendwo hier drinnen«, sagte Frank und schaute sich im Kirchenschiff um. »Ich glaube, von da vorne.«
»Sei vorsichtig, Schatz. Vielleicht ist er es ja gar nicht.«
Frank legte seinen Zeigefinger auf die Lippen als Zeichen, dass sie sich ruhig verhalten sollte, ging dann auf Zehenspitzen den Mittelgang entlang nach vorne und blieb abrupt stehen, als er auf Höhe der zweiten Bankreihe angelangt war. Schweigend bewegte er sich daran entlang und beugte sich irgendwann vor, um auf die Sitzfläche vor sich zu schauen.
Dann drehte er sich zu ihr um und sagte lächelnd: »Komm mal her und schau dir das an!«
Was sie sah, als sie kurz darauf neben ihm stand, brachte auch sie zum Lächeln, denn sie schauten hinunter auf den friedlich schlummernden Neil, der lang ausgestreckt auf der Bank lag, den Kopf auf einen Betschemel gebettet, und mit halb offenem Mund laut schnarchte. Auf dem Fußboden unter ihm lag eine offene Schachtel mit Abendmahlsoblaten – oder jedenfalls dem, was davon noch übrig war – und auch den Abendmahlswein hatte er anscheinend gefunden denn der Silberkelch, den sie im Sonntagsgottesdienst benutzten, und in dem nur noch ein letzter kleiner Schluck eben den Boden bedeckte, stand neben seinem herunterbaumelnden Arm.
»Verhungert ist er jedenfalls nicht«, sagte Frank. »Das ist ja schon mal beruhigend.«
Beim Geräusch ihrer Stimmen öffnete Neil ruckartig die Augen, und für einen kurzen Moment war deutlich zu merken, dass er nicht mehr wusste, wo er war.
»Also dann«, sagte Margaret in ihrem nüchternen Ton, den er später noch so gut kennenlernen sollte. »Es gibt Schweinekoteletts zum Abendessen. Kommen Sie?«
ZWEI
»Ich bin schließlich deine Mutter, Neil. Ich weiß das!«
Durch den Bluetooth-Ohrhörer, den Neil während der Fahrt benutzte, war Iris Fishers Stimme nicht ganz so penetrant. Er war trotzdem versucht, zusätzlich die Lautstärke herunterzudrehen, aber jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass, wenn er auch nur eine einzige, scheinbar noch so unwichtige Einzelheit aus den täglichen Monologen seiner Mutter verpasste, sie noch monatelang darauf herumhacken würde, wenn sie es merkte.
»Du bist immer so voreilig.« Sie war jetzt richtig in Fahrt. »Nie lässt du dir die Zeit, deine Alternativen zu bedenken – und du siehst ja, wohin das dieses Mal geführt hat! Wer hat denn schon jemals von einem entlegenen Kaff namens Dumbridge gehört?«
»Es heißt Dunbridge, Mutter, und es ist ganz und gar nicht entlegen, sondern nur anderthalb Kilometer von der A1 entfernt und deshalb auch gut ausgeschildert.«
»An der Straße nach jwd, und das ist genau die Straße, auf der du auch gerade unterwegs bist. Also ehrlich, Neil, werd' endlich erwachsen. Ein Posten als Vikar in einem Ort, den kein Mensch kennt …?«
»Vielleicht kennst du ihn nicht, aber es gibt viele, die ihn sehr wohl kennen – zum Beispiel die sechstausend Menschen, die dort wohnen.«
»Was kann denn das schon für eine Gemeinde sein in einem so entlegenen Nest? Wie willst du es da jemals schaffen, an höherer Stelle auf dich aufmerksam zu machen? Hast du denn gar keinen Ehrgeiz weiterzukommen? Wenn du in so einem Provinznest anfängst, dann bleibst du da hängen, lass dir das von mir gesagt sein!«
Neils Fingerknöchel waren schon ganz weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad, und er merkte, wie er ganz langsam und lange ausatmete. Iris dagegen holte anscheinend überhaupt nicht Luft.
»Und noch etwas. Meinst du, das hätte sich dein Vater für dich vorgestellt? Hast du daran schon mal gedacht? Er war ein Mann mit Format und hatte etwas erreicht, als er in den Ruhestand ging – Seniorpartner bei Hewitt, Manley und Fisher war er. Was würde er wohl davon halten, wenn sein einziger Sohn sich sämtliche Chancen verbaut, um ausgerechnet Pfarrer zu werden?«
»Also ich glaube, es hätte ihm ganz gut gefallen …«
»Die Vorstellung, dass sein Sohn – in welcher Form auch immer – unter seinen Möglichkeiten bleibt, hätte ihm ganz und gar nicht gefallen. Und dabei hättest du dich für so vielversprechende, viel eindrucksvollere Berufe entscheiden können, Neil. Berufe, in denen du Karriere machen könntest und die deiner würdig wären, und deines Vaters – und meiner.«
»Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, Mutter, und ich kann mir schon ganz gut selbst Gedanken machen …«
»Dann tu das doch gefälligst auch mal, Neil! Sieh endlich ein, dass diese Schnapsidee, Pfarrer zu werden, ja vielleicht ganz lustig ist, aber unsinnig – und der Gedanke, dass du in irgendeinem Provinznest namens Dumbridge versauerst, ist doch lächerlich.«
»Es heißt Dunbridge, Mutter – und außerdem ist die Entscheidung schon gefallen. Ich sitze in meinem vollgepackten Wagen und bin schon fast da. In ein paar Minuten bin ich bei meinem neuen Haus.«
»Dann halt an, Neil, halte sofort an! Kehr um, komm nach Hause und lass mich eine schöne Stelle als Steuerberater für dich organisieren. Das hätte sich auch dein Vater gewünscht.«
»Entschuldige, Mutter, aber die Verbindung ist gerade ganz schlecht. Ich rufe dich morgen wieder an.«
Eine kleine Notlüge, ein schnelles Gebet um Vergebung, und Neil schaltete mit einem Seufzer der Verzweiflung sein Handy ab. Das Gespräch – so man es denn überhaupt so bezeichnen konnte – das er gerade mit seiner Mutter geführt hatte, war wie eine Endlosschleife, die sie unablässig spielte seit dem Moment vor vier Jahren, als er ihr zum ersten Mal von seinem Entschluss erzählt hatte, seiner Berufung zu folgen und Pfarrer zu werden. Trotz des eindringlichen, tränenreichen, manchmal boshaften und oft herzerweichenden Widerstandes seiner Mutter hatte er sich für die Ausbildung zum Gemeindepfarrer entschieden und sich nach dem Studium um eine Vikarstelle beworben. Doch sie hatte trotzdem weiter so heftig argumentiert, gezetert, gebettelt und geschluchzt – dass es ihr körperlich wirklich sehr zusetzte und sie Neil versicherte, dass es auf jeden Fall seine Schuld sei, wenn sie stürbe (was, wie sie behauptete, unmittelbar bevorstand). Doch er war standhaft geblieben – und sie am Leben. Er brachte Bewerbungsgespräch um Bewerbungsgespräch hinter sich bis zu dem wundervollen Tag, an dem er die Nachricht bekommen hatte, dass er für die praktische Ausbildung in der Gemeinde angenommen worden sei. Er war begeistert und überwältigt von dem Gefühl, jetzt endlich seiner Bestimmung gerecht zu werden. Seine Mutter war untröstlich gewesen und hatte dann beschlossen, die Schweigestrategie zum Einsatz zu bringen, und zwar drei volle Tage lang – was Neil allerdings, ehrlich gesagt, wie ein Gottesgeschenk vorgekommen war. Er wusste, dass er seiner Berufung folgen und bei seinem Entschluss bleiben musste, und deshalb konnte ihn auch ihr geballter Widerstand nicht aufhalten.
Ja, und da saß er jetzt also in seinem bis zum Dach vollgepackten Wagen, und St.