Ein Luftzug war zu spüren, als die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde – und weg war sie.
»So«, sagte Frank, als er wieder in die Küche kam. »Jetzt haben wir ja beide unseren Marschbefehl. Die Kirche ist in die Richtung. Bis zum Ende des Gartens, durchs Tor, geradeaus ein kleines Stück die Straße hoch – und dann sind Sie auch schon da!«
Dieses Mal konnte Neil es wirklich nicht verfehlen. Schon in dem Augenblick, als er durch das Gartentor trat, sah er St. Stephen's vor sich aufragen. Er atmete einmal tief durch. Schon als kleiner Junge hatte er alte Bauwerke geliebt, ganz besonders Kirchen. Das lag wahrscheinlich daran, dass diese auch eine Leidenschaft seines Vaters gewesen waren. Besonders hatte es ihm immer gefallen, eine Kirche zu entdecken, die er noch nie besichtigt hatte. Wie »aufgeschlagene Geschichtenbücher« seien alte Kirchen, hatte sein Vater immer gesagt, und Neil erinnerte sich an die vielen glücklichen Stunden, in denen sie zu zweit erst um eine alte Kirche herumgelaufen waren, um sie von außen zu betrachten, und dann das Innere besichtigt und eine normannische Steinmetzarbeit hier und dort einen gotischen Bogen entdeckt hatten. An Wandverzierungen, im Taufbecken oder sogar ganz oben an Säulen hatten sie die persönlichen Zeichen der Steinmetze eingeritzt gefunden – Gesichter, die wahrscheinlich frappierende Ähnlichkeit hatten mit denen mancher Gemeindeglieder zur Zeit der Künstler. Sie hatten Türme mit Glocken besichtigt, die seit unzähligen Generationen jeden Sonntag läuteten (außer während des Zweiten Weltkrieges, wie ihm sein Vater erklärt hatte); sie hatten Wandteppiche gesehen und mittelalterliche Gemälde, auf denen biblische Geschichten dargestellt waren für die Menschen, die weder lesen noch schreiben konnten, und oft hatten sie sogar Schwalben gesehen, die seit Urzeiten unter den Dachüberständen nisteten.
Der kleine Neil hatte seinem Vater wie gebannt zugehört, hatte sich die Steinmetze bei der Arbeit vorgestellt und die Gläubigen in alten Zeiten, und staunend hatte er die gewaltigen Glocken betrachtet. Dem kleinen Jungen damals war es so vorgekommen, als ob sein Vater die Geschichte jeder Kirche wie aus einem Buch vorlesen konnte. Er kannte große und kleine Einzelheiten, die so viel über die Menschen aussagten, die vor ihnen dieses Gebäude gekannt hatten.
»Wenn diese Wände sprechen könnten …«
Neil hatte immer noch genau vor Augen, wie der Gesichtsausdruck seines Vaters ganz weich wurde, wenn er das sagte.
»… sie sind durchtränkt mit alldem, was hier drinnen passiert ist. Deshalb haben alte Kirchen eine so wunderbare Atmosphäre. Sie haben so viel gesehen, so viele Gefühle miterlebt, all die Sorgen, Hoffnungen, Freuden und den Kummer der Menschen, die im Laufe der Jahre hier zusammengekommen sind – diese Wände haben das alles aufgesogen. Die könnten vielleicht Geschichten erzählen …«
Neil merkte, wie er bei diesen Gedanken langsamer wurde. Sein Vater war mittlerweile schon seit fünfzehn Jahren tot, aber er vermisste ihn immer noch. Die letzte Krankheit hatte ihm die Lebensfreude und auch die Würde genommen. Jetzt hatte er seine Ruhe, dachte Neil mit einem schiefen Lächeln – zumindest Ruhe vor der scharfen Zunge seiner Frau!
Es hieß oft, Neil sähe seinem Vater so ähnlich, und diese Ähnlichkeit erkannte er auch selbst, allerdings nur bei dem drahtigen Haar, das er von seinem Vater geerbt hatte. Er trug es allerdings im Unterschied zu seinem Vater kurz geschnitten, sodass man kaum sah, wie lockig es eigentlich war. Vater und Sohn hatten außerdem das gleiche, etwas schiefe Grinsen gehabt, wenn sie lachten, was oft der Fall gewesen war, denn sie hatten auch einen ganz ähnlichen Humor. Doch darüber hinaus konnte Neil wenig Ähnlichkeit mit seinem Vater erkennen. Seine breiten Schultern und die etwas gedrungene Figur hatte er eher von der Seite seiner Mutter. Ihre Brüder waren alle erfolgreiche Rugbyspieler gewesen, was sie gern bei jeder passenden – und auch unpassenden – Gelegenheit erzählte. Von seiner Statur her wäre auch Neil ein perfekter Gedrängehalbspieler gewesen, aber schon allein der Gedanke, auch nur in die Nähe eines Knäuels von Angriffsspielern zu geraten, war für ihn ein Alptraum.
Der Friedhof war richtig schön. Es war vielleicht etwas seltsam, das über einen Friedhof zu denken, aber er hatte Friedhöfe schon immer faszinierend gefunden, besonders weil er als Kind stundenlang über sie geschlendert war und die Inschriften auf den Grabsteinen gelesen hatte. Neil warf auch jetzt einen kurzen Blick auf die Steine, die direkt am Weg standen, und nahm dabei vage wahr, dass die Kirchturmuhr gerade zwölf Uhr schlug, als er den gotischen Bogen des Eingangsportals erreichte. Trotz Margarets Vorwarnung war das Portal ganz leicht zu öffnen. Neil brauchte nur leicht am Knauf zu drehen, und es ließ sich mühelos aufdrücken, sodass er die Kirche betreten konnte.
Nachdem er einen Augenblick stehen geblieben war, um das Wesen des Gebäudes tief in sich aufzunehmen, ging er an der hintersten Kirchenbank entlang und bog dann in den Mittelgang. Erst da merkte er, wie warm es draußen in der Spätfrühlingssonne gewesen war. Im Innern der Kirche war es still und kühl, eine Oase der Ruhe, die aber das emsige Treiben der Stadt mit ihrem Marktplatz nicht vollständig aussperrte. Er konnte immer noch den Verkehrslärm hören, Kinderstimmen aus der nahegelegenen Schule und sogar leises Vogelgezwitscher, aber es fühlte sich an, als wäre eine Decke über das Gebäude gebreitet, die alle Geräusche dämpfte, sodass sie weit weg schienen.
Würde diese Kirche sein geistliches Zuhause werden können? Das überlegte er, als er nach vorn zum Altarraum ging und dabei das große geschnitzte hölzerne Kreuz über dem Altar im Blick hatte.
War das hier das Richtige? Würde er dieser Gemeinde etwas zu geben haben? Würde das, was er als Vikar einbringen konnte, die Gemeinde positiv verändern? Würde er hier glücklich werden und ein erfülltes Leben führen können?
Plötzlich spürte er, wie einen Seufzer, einen kalten Luftzug im Rücken – und im selben Moment schlug durch eben diesen Luftzug die schwere Kirchentür zu und machte dem Frieden ein Ende. Das Echo hallte durch das gesamte alte Gemäuer bis hoch hinauf in die Dachsparren.
***
Frank ging sofort nach dem ersten Läuten an den Apparat.
»Ach Frank, mein Lieber, bin ich froh, dass ich dich erreiche!« Margaret wartete gar nicht erst, bis ihr Mann sich gemeldet hatte, sondern redete sofort drauflos:
»Diese Wellensittichgeschichte erweist sich doch als ein bisschen komplizierter, als ich gedacht habe. Violet lebt in einer Wohnanlage für betreutes Wohnen, die, wie du ja weißt, von einem kommunalen Träger betrieben wird. Violet möchte ihren Wellensittich gern in ihrer Nähe begraben haben, also irgendwo im Park der Anlage, aber irgend so ein Paragraphenreiter sagt, dass wir eine schriftliche Genehmigung brauchen, wenn der Wellensittich auf kommunalem Grund und Boden begraben werden soll. Das ist doch nicht zu fassen, oder? Jedenfalls ist Violet völlig mit ihrer Trauer beschäftigt, und ihre Tochter droht damit, die Presse einzuschalten. Ich muss also noch ein bisschen hierbleiben, um die Wogen zu glätten.«
»Und vielleicht ja sogar noch, um Weihwasser auf kommunalen Grund und Boden zu sprenkeln!«, gluckste Frank. »Ach, du Ärmste. Aber wenn irgendjemand das geregelt bekommt, dann du.«
»Es geht nur darum, dass Neil, der neue Vikar – also hoffentlich unser neuer Vikar, wenn ich ihn überzeugen kann, zu uns zu kommen – sich ja fragen muss, wieso ich ausgerechnet heute so viel zu tun habe, wo ich doch gewusst habe, dass er extra den ganzen weiten Weg herkommt …«
»Na ja, dann bekommt er wenigstens gleich eine Vorstellung davon, wie viel hier zu tun ist und wie dringend er gebraucht wird, oder?«, antwortete Frank.
»Könntest du es ihm vielleicht erklären und ihn um Verständnis bitten? Sag ihm, er kann ja inzwischen schon mal einen Blick auf die Protokolle der letzten Kirchenvorstandssitzungen werfen. Und dann ruf Peter an und sag ihm, er soll vorbeikommen und Neil erzählen, wie aktiv der Kirchenvorstand von St. Stephen's ist.«
»Aber er ist gar nicht hier, Margaret«, sagte Frank ein wenig ratlos. »Er ist gegen zwölf rüber in die Kirche gegangen, wie du vorgeschlagen hast. Ich bin eine ganze Weile weg gewesen, aber ich glaube nicht, dass er noch einmal vorbeigekommen ist. Ich bin zur Sicherheit sogar noch einmal zur Kirche gegangen, um nachzuschauen, ob er vielleicht noch dort ist, hab reingeschaut und ihn ein