Gegen fünf Uhr kommt Tante Hedel. Ich stehe mit Oma vor der Haustür und sehe sie von Weitem langsam näherkommen. Als sie an der Post vorbei ist und keine einmündende Straße mehr eine Gefahr für mich darstellt, darf ich ihr entgegen rennen. Ich renne so schnell ich nur kann, stolpere fast über meine eigenen Füße. Tante Hedel setzt ihre Tasche und den dicken Beutel ab, die sie beide in der rechten Hand trägt. Auf dem letzten kleinen Stück, welches uns noch trennt, gibt sie mit ausgebreiteten Armen die Richtung meiner Landung an. Ich bremse kurz ab, laufe aber trotzdem ziemlich ungestüm in sie hinein. Durch den Aufprall macht sie einen Schritt rückwärts und hat zu tun, die Balance zu halten.
„Nicht so wild, kleiner Mann. Wirfst mich ja um“, sagt sie scheinbar vorwurfsvoll, beugt sich aber gleichzeitig zu mir herunter, um ein Küsschen auf meine Wange zu setzen.
Hand in Hand gehen wir die letzten Meter zur Haustür gemeinsam. Ich darf den dicken Beutel tragen. Schwer ist er nicht, denn es befindet sich nur ein Kopfkissen für mich darin, wie Tante Hedel mir verriet. Leider sind die Henkel fast so lang wie ich, sodass ich meine Mühe beim Tragen habe. „Ich bin kräftig und ich werde diesen Riesen besiegen“, denke ich voller Heldenmut.
Als Opa von der Arbeit kommt, sitzen wir drei schon in der Küche. Es klingelt und Oma schickt mich, die Tür zu öffnen. Ich flitze um die Ecke. In dem Moment, als ich zur Türklinke greife, stoppt plötzlich die Hand. Dort hinter der Tür steht der, der mich auf meinen Popo gesetzt hat. Soll ich ihn wirklich hereinlassen? Was, wenn er es wieder tut? Die Hand wartet nicht auf Antworten. Die Finger drücken die Klinke herunter und die Tür springt auf. Erschrocken will ich zurückweichen. Aber zu spät. Diesmal haben mich zwei große behaarte Hände fest unter den Achseln gefasst und in die Höhe katapultiert. Fast waagerecht hänge ich in der Luft, bin plötzlich über Opa hinausgewachsen, denn er hält mich mit ausgestreckten Armen über seinem Kopf.
„Na, Hosenscheißerchen, alles wieder in Ordnung? Warst du lieb?“, fragt er und lässt mich noch immer in der Luft zappeln.
Ich nicke nur heftig mit dem Kopf. Mir hat es in dieser luftigen Höhe die Sprache verschlagen. Ganz geheuer ist es mir auch nicht. Opa lässt mich ein Stück herab, klemmt mich wie eine Zeitung unter den Arm, schließt mit der freien Hand hinter sich die Tür und marschiert mit mir in die Küche ein.
„Guten Abend, miteinander. Ich hab euch ein kleines Hosenscheißerchen mitgebracht. Da ist es“, und zeigt mich den beiden Damen in voller Pracht.
„Lass ihn sofort runter“, schimpft Oma und nimmt mich vorsichtshalber selbst aus den Fängen dieses kräftigen Bären.
Mit der frei gewordenen Hand zerzaust er mir noch die Haare, die jetzt wild nach allen Seiten stehen.
„Nicht doch, habe ihn extra hübsch gemacht für dich“, murrt Oma.
„Bist auch so schmuck genug, stimmt’s?“, fragt mich Opa schmunzelnd.
Wieder nicke ich mehrfach und quetsche mir ein undeutliches „Ja“ heraus. Ich husche unter der Tischplatte hindurch, drängele mich durch den Spalt zwischen Unterkante Tisch und der Sofasitzfläche und gelange so auf meinen Thron, gebaut aus einem extra dicken Sofakissen. Vorsichtshalber halte ich respektvoll Abstand zu dem Platz neben mir. Sicher ist sicher.
Es gibt Suppe mit grünen Bohnen, Kartoffelstücken und Rauchfleisch, das wir erst nach dem Mittagsschlaf beim Fleischer geholt haben.
„Bitte mit Schwarte“, hatte meine Oma der Verkäuferin gesagt.
Ich sah, dass sie nach dem Wiegen, bevor sie das Stück in Papier einwickelte, noch einen Streifen dazu legte.
„Danke schön“, hatte Oma freudig dazu gesagt.
Jetzt war das Rauchfleisch in kleine Happen geschnitten, wie auch ein Teil der Schwarte. Nur der Extrastreifen ist ganz geblieben und wird feierlich auf Opas Teller gelegt.
Nach dem Essen fragt mich Opa, ob ich „Händehaschen“ kenne. Er zeigt mir, wie mit der flachen Hand dem anderen auf die Handfläche geschlagen wird, wenn der seine nicht schnell genug vor dem Schlag wegzieht. Es macht einen Heidenspaß. Vielmehr treffe ich Opas Handteller als er meine. Ich schaffe es immer wieder, rechtzeitig wegzuziehen. Oder schlägt Opa etwa absichtlich langsamer? Da bin ich am Zweifeln. Egal, ich bin der Sieger.
Heute war ein guter Tag, denke ich, als mich alle drei ans Bett begleiten. Tante Hedel und Opa winken mir von der Tür aus zu, denn alle drei haben ja nicht Platz an meinem Bett. Oma singt „Schlaf, Kindchen, schlaf …“ Mir wird warm ums Herz.
„Morgen wird wieder ein schöner Tag“, flüstert mir Oma ins Ohr, bevor sie mir die Zudecke bis ans Kinn zieht, die Seiten unter die Beine steckt und prüfend schaut, dass auch meine Füße fest mit der Decke umschlossen sind.
9. Kapitel
Mir ist warm. Ich schwitze. Nehmt mir die Decken weg. Was ist das? Ich bin getrennt vom Körper, sehe mich aus dieser Hülle von Fleisch und Blut treten. Ich schwebe durch das Zimmer. Es ist dunkel, ganz dunkel. Aber ich kann alles erkennen. Die vielen Menschen um mich herum, die mit ihren nassen heißen Händen nach mir greifen. „Fasst mich nicht an!“, schreie ich, ohne dass der Schall an mein Ohr dringt. Lautlos brülle ich: „Lasst mich los, fasst mich nicht an!“ Näher kommen mir diese vielen Hände. Sie werden immer mehr. Von überall tasten sie nach mir. Hände, die aus der Zimmerdecke heraushängen, mit knochigen Fingern und Fingernägeln, die sich vor Länge kringeln. Kräftige behaarte Pranken, schnellen wie aus dem Nichts plötzlich aus dem Fußboden – wie die Hand, die mich in der Speisekammer griff –, umklammern Füße und Beine. Nach allen Seiten ziehen und zerren diese schrecklichen Hände. Immer neue versuchen, noch ein Stückchen meines Ichs zu erhaschen. Jeder Zipfel an mir schmerzt. Das auf dem Bett, aus dem ich herausgetreten bin, haben die Monsterpfoten schon in kleine Fetzen gerissen. Nur ein winziges Stück Schwarte bleibt unangerührt auf der ausgestreckten Handfläche eines der vielen Monsterhände liegen. Verzweifelt versuche ich dahin zu gelangen. Aber Hunderte von ihnen zerren und ziehen an mir.
Es wird ganz dunkel. Langsam verschwindet alles um mich herum. Auch die grässlichen Hände. Nur der unsagbare Schmerz bleibt.
Im Zimmer von Karl Nebel hat sich Aufregung breitgemacht. Der Stationsarzt, Krankenschwestern und nun auch der herbeigerufene Oberarzt, Dr. Meissner, hantieren mit Routine, trotzdem hektisch und sich hin und wieder Order zurufend. Einige der Geräte, die um das Bett gruppiert sind, gaben alarmierende Signale ab. Ein Halbdutzend Lampen blinkten rot.
Auf den angespannten Gesichtern der Beteiligten ist deutlich zu erkennen, dass sie um Karl Nebels Leben ringen. Sie haben sich, stellvertretend für Karl, dem Kampf gegen Gevatter Tod gestellt. Unerbittlich wird an der alles entscheidenden Front gekämpft. Kein noch so kleines Stückchen Leben ist man gewillt, sich entreißen zu lassen. Lange dauert der Kampf, das Ringen der gegensätzlichen Kräfte. Der feste Wille, der Macht des Todes die Stirn zu bieten, gibt den Ausschlag.
Langsam, ganz langsam wird die Gegenwehr des Sensenmannes schwächer, lässt er ab vom Auserwählten. Aber er wird wiederkommen, sobald sich auch nur ein kleines Fünkchen Hoffnung auf Erfolg für sein Ansinnen zeigt.
Susanne hat aus der Ferne dieses hektische Treiben beobachten müssen. Die Stationsschwester ließ sie auf der Bank des langen Flurs Platz nehmen, weit genug entfernt, um nicht in das Geschehen eingreifen zu können, ihrem Karl zu Hilfe zu eilen.
Jetzt zieht wieder Ruhe ein. Ärzte und Krankenschwestern verlassen nach und nach das Krankenzimmer. Als letzter tritt Dr. Meissner auf den Flur und kommt