Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerald Netsch
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783960083252
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rollt Susanne die erste Träne des heutigen Tages über die Wange und kennzeichnet mit Wimperntusche schon mal den Weg für die Brüder und Schwestern, die ihr folgen werden.

      Ich spüre den festen Griff, die Umklammerung, aus der es kein Entrinnen gibt. Ich beginne meinen Körper hin und her zu drehen, versuche, mich unter dem Leib von Mama herauszudrängen. Keine Chance, je mehr ich mich winde, desto fester wird ihr Griff. Ich will deine Mutterliebe nicht. Sie ist falsch, unaufrichtig. Sie ist erschaffen aus Selbstmitleid. Lass mich los. Ich will nicht von dir, von deiner Seele infiziert werden. Nein, du tust mir weh, es schmerzt so sehr, lass mich, lass mich endlich, ich will nicht, will nicht …

      Die Strahlen der frühen Morgensonne spielen mit den aufgewirbelten Staubpartikeln in der Luft, die zwischen Sofa und Fenster schweben. Auf und ab, hin und her fliegen sie, bleiben für Bruchteile eines Momentes still und regungslos in der Luft stehen, um dann umso schneller wieder in Bewegung, zu einem anderen Ort zu hasten. Ich beobachte dieses Schauspiel fasziniert. Das möchte ich auch, einfach dahinschweben, weg von dem einen bösen Ort zu einem nächsten, bunten, warmen, friedlichen Ort. Ich will fliegen. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht. Ich schaffe es zumindest, meine missliche Lage etwas zu verbessern. In einem Augenblick der Unachtsamkeit drehe ich blitzschnell meinen Körper auf die andere Seite, bevor der Würgegriff wieder einsetzt. Jetzt schaue ich Mama ins Gesicht. Sie macht einen so friedlichen, schon fast glücklichen Eindruck. Ihr Atem geht leicht, die Fältchen an den Außenseiten der Augen deuten darauf hin, dass sie einst viel gelacht haben muss. Ich betaste mit meinen Fingern die Lachfältchen, streiche über sie hinweg, um jede einzelne dieser kleinen Rillen zu spüren.

      „Lass mich in Ruhe“, raunzt Mama mich an.

      Erschrocken ziehe ich die Hand zurück. „Ich hab es doch lieb gemeint“, protestiere ich tief im Inneren. Ruhig bleibe ich fortan liegen, um sie nicht noch einmal zu stören.

      Vor mir tauchen Bäume auf, grüne Hecken. Vögel zwitschern vergnügt, geben sich Signale, versuchen, sich singend gegenseitig zu überbieten. Auf meiner Augenhöhe, direkt über dem Festungsrand mit der geklöppelten Spitze, kann ich durch die eine oder andere Lücke der Hecke schauen. Ich sehe Menschen in bunten Kleidern und Röcken oder graublauen Arbeitshosen, die sich mit all dem beschäftigten, was in und aus der Erde wächst, in Reihen, Zeilen oder Büschen. Ich erspähe Blumen in unendlicher Farbenpracht, hochgewachsen die einen, die sogar die Heckenreihen überragen, kurz gehalten andere, die im Rasen sich verstecken. Alles duftet berauschend. Ich liebe den Garten meiner Großeltern und Tante Hedel, die Schwester von Oma. Hier fühle ich mich wohl, laufe bunten Schmetterlingen hinterher oder krieche auf allen Vieren, das geht schneller. Opa stellt mir eine große Waschschüssel mit Wasser hin, gibt mir Stöckchen in die Hand, die ich als Boote über den riesigen Ozean auf Reisen schicke. Damit kann ich mich stundenlang beschäftigen. Ich glaube, Opa weiß genau, warum er mich öfters damit ausstattet. Ich bin neugierig und liebend gern auf Entdeckungstour zwischen den Beeten. Erdbeeren oder andere an stachligen Sträuchern hängende grüne, gelbe, rote oder schwarze Beeren sind vor mir kaum sicher. Dabei ist es mir einerlei, ob ich noch im Garten der Großeltern bin oder schon in dem des Nachbarn. Schnell habe ich erkannt, dass da, wo ich nicht hin soll, die besten Früchte locken. Die Versuchung ist groß. Meist holt mich Oma aus dem fremden Paradies, gibt mir einen leichten Klaps auf den Hosenboden und winkt mit erhobenem Zeigefinger. Wenig später bekomme ich stets die Belohnung für die Entdeckertour: eine Kompottschüssel voller leckerer, bunter Beeren, überdeckt mit vielen Zuckerkörnchen. Bei so viel Fürsorge braucht sie sich nicht wundern, wenn ich dauernd ausrücke. Ich nutzte es schamlos aus, jedes Mal mit prickelnder Freude im Bauch.

      Die am Wochenende stattfindenden Besuche in der Gartenkolonie sind der Höhepunkt der Woche. Dann vergesse ich sogar, dass sich meine Eltern am Vortag oder direkt vor dem langen Spazierweg oder währenddessen bis zum Ziel mehr oder weniger heftig streiten. Angekommen in dem kleinen Paradies sind sie dann ein Herz und eine Seele. Sie können beide gut schauspielern, aber nicht so gut, dass es Oma nicht durchschauen würde. Als Erstes nach der Begrüßung nimmt sie mich hoch, drückt meinen zierlichen Körper an ihre warme Brust und gibt mir einen langen, lieben Kuss auf die Stirn. Dann werde ich weitergereicht zu Opa, der sofort alles stehen und liegen lässt, um mich unter den Armen zu fassen, in die Höhe zu werfen und mit einem tiefen Knicks kurz vor dem Boden wieder abzubremsen. Das Gefühl im Bauch ist wunderschön und er muss es ein Dutzend Mal wiederholen. Zum Schluss im Begrüßungsreigen ist Tante Hedel dran. Sie nimmt mich meist auf den Schoss, streichelt mir übers Haar und entlässt mich zurück auf den Boden, damit ich Entdecker sein kann. Sie ist etwas eigenartig, das spüre ich an ihren Berührungen. Ich glaube, sie kann mit Kindern nicht so gut, da sie selbst nie welche hatte. Ich würde am liebsten immer hier bleiben. Hier fühle ich mich geborgen, geliebt und wortlos verstanden. Aber mein Wunsch zerplatzt jedes Mal wie eine Seifenblase, wenn es nach einigen Stunden wieder auf den Heimweg geht. Da helfen auch keine Körbe mit leckeren Beeren und verschiedenem Gemüse, auch keine Sträuße aus bunten Blumen. Am liebsten hat Mama Margeriten, und Pfingstrosen, die so gut riechen. Mich macht der Abschied traurig. Oma drückt mich dann nochmals herzlich, blickt mir fest in die Augen und sagt:

      „Wird schon, mein Junge.“

      Am Tag danach beginnt der graue Alltag. Ich werde von Mama schlafend aus dem Bett gehoben, erschrecke, wenn ich auf Füßen stehend plötzlich erwache. Zeit zum Nachdenken gibt es kaum. Immer wieder wird geschubst, gezogen, gezerrt.

      „Beeile dich, ich muss los. Ich darf nicht zu spät kommen“, ermahnt mich Mama ärgerlich.

      Der Weg zum betriebseigenen Kindergarten des Schlachthofes scheint unendlich. Oft weine ich aus lauter Verzweiflung, weil ich müde bin, lieber noch schlafen würde, mich wieder nicht von meinem einzigen Freund, dem zerzausten Teddy, verabschieden durfte.

      Ich will in keinen blöden Kindergarten, hämmert es in meinem Kopf. Mit Händen und Füßen trete ich um mich, schreie wie am Spieß, spucke den Frauen mit den weißen Schürzen Flecke auf den Stoff. Werfe mich auf den Boden und strampele wie ein Marienkäfer, der auf dem Rücken liegt. Hier in dem grauen, kahlen, kalten Haus will ich nicht bleiben. In meiner Seele brennt ein Feuer, lodert Hoffnung, mit meinem Aufbegehren hier wegzukommen. Ich bin an keinem der trostlosen Tage zu beruhigen. Daheim geht es weiter. Jähzornig stoße ich am Abend meinen Teller vom Tisch. Der Pudding bildet einen kleinen Berg auf dem Dielenboden, der langsam breiter wird.

      „Spinnst wohl, du Mistbalg“, ruft Mama erzürnt.

      Mit der gleichen Schnelligkeit wie sie sich vom Herd herumdreht saust ihre Hand auch schon in meine Richtung und schlägt schmerzhaft auf den Mund ein. Blut läuft mir aus der Nase, tropft tiefrot auf den gelben Puddingberg. Ich bekomme einen nassen Geschirrlappen ins Gesicht gedrückt. Flüchtig wischt Mama das Blut fort, zieht mich in Windeseile aus und genauso rasch das Schlafzeug an. Ohne Blickkontakt steckt sie mich ins Bett und feuert die Tür vom Schlafzimmer zu. Spät abends, ich kann vor Traurigkeit über mein Schicksal keinen Schlaf finden, höre ich die beiden streiten.

      „So geht das nicht weiter, der Balg ist eine rechte Plage. Ich weiß mir keinen Rat, was ich mit ihm noch anstellen soll“, schimpft Mama lautstark auf das Gegenüber ein.

      Papa, nach Tagen seines Wegbleibens wieder da, saugt hilflos am Bier und faucht zurück:

      „Das ist doch nicht meine Aufgabe, dem Kleinen Manieren beizubringen. Dafür bist du zuständig. Ich schufte von früh bis abends, mache noch Überstunden, damit Geld ins Haus kommt. Und du, statt dich um die Gören zu kümmern, gehst du schwofen. Kein Wunder, wenn ich mal einen übern Durst trinke und nach einer anderen Frau schiele. Hab ja sonst kein Vergnügen.“

      „Mit mir kannst du vögeln, nicht mit der Eva. Hattest leichtes Spiel bei der, was? Bei mir hättest du dich schon anstrengen müssen. Dafür ist der Herr sich aber zu bequem. Liebt die schnelle Nummer. Was hast du denn gemacht, die zwei Tage, als du weg warst? Hast dir anderswo dein Vergnügen geholt. Und womöglich noch eine Menge Geld auf den Kopf gehauen mit irgendeinem Flittchen. Gib’s doch zu, du geiler Bock“, schreit Mama aus vollem Halse.

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