Sie lässt den Gedanken, ihren Gefühlen wieder freien Lauf, macht einen Zeitsprung fast in die Gegenwart. „Die Prostataoperation war der Wendepunkt in unserer Ehe“, gesteht sie sich ein. „Bis dahin war ich mir deiner Treue nie sicher gewesen, habe mehrfach mit dem Gedanken gespielt, mich von dir zu trennen. Aus der Beziehung war die Luft raus. Immer nur Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Für alle warst du erreichbar, versuchtest es jedem recht zu machen und hast mich dabei total vergessen. Die Stunden konnte ich zählen, in denen du bei mir, bei uns warst. – Der Sex war mir nicht mehr wichtig, war froh, dass es nicht mehr sein musste. Irgendwann will die Frau nicht mehr, hat keinen Bock mehr auf diese Sachen“, beschwichtigt sie sich selbst. Fast klingt es wie eine Entschuldigung, dass ihr das Verlangen abhandengekommen ist. „Mit fast 60 Jahren brauch ich keinen Sex mehr, will nur noch zärtlich in den Arm genommen werden, mich abends im Bett vor dem Einschlafen ankuscheln. Mehr nicht“, zieht sie Resümee.
„Für dich war es bis zur OP sehr wichtig gewesen, dich sexuell zu beweisen. Als du die furchtbare Diagnose erhieltest, merkte ich, dass für dich eine Welt zusammenbrach. Trotzdem war es deine größte Hoffnung, vom Krebs befreit zu werden, dein Leben zu verlängern, das nicht auf zwei Drittel des Weges ein Ende haben sollte. Billigend nahmst du in Kauf, impotent zu werden, keine Erektion mehr zu haben, nicht mehr zeugen zu können als Folge des Eingriffs, auch wenn du das aus den Gedanken verdrängt hast. Die Operation verlief erfolgreich, die Reha schlug an und Weihnachten 2010 saßest du, mein Karl, unter dem Weihnachtsbaum, gemeinsam mit den Enkelkindern. Doch kaum hatte das neue Jahr begonnen, ließest du dich gesundschreiben und gingst wieder arbeiten, getreu der Devise: ‚Ohne mich geht nichts.‘ Nur Tage später begann die Bestrahlung. Fast vierzig Mal, immer die gleiche Prozedur: Mal eben kurz vom Büro zum Bestrahlungstermin und genauso fix wieder an den geliebten Schreibtisch zurück und weitergemacht unter Volldampf. Unermüdlich. Lange schon warst du über den Zenit, hattest deine Kraftreserven verbraucht. Du wolltest es nicht wahrhaben. Wie ein Flugzeug, dem der Treibstoff ausgegangen ist, rastest du auf die Katastrophe zu. Anfang April 2011 ging es nicht mehr, du heultest nur noch, zittertest am ganzen Körper. Schluss. Aus. Burnout.“
Susanne blickt versonnen aus dem Fenster. Dr. Meissner betritt das Zimmer, begrüßt sie freudig und kommt sofort auf den Punkt.
„Frau Nebel, es gibt gute Nachricht. Wir haben heute eine Reihe ergänzender Untersuchungen durchgeführt, es spricht nichts dagegen, mit der Frührehabilitation zu beginnen. Ich drücke die Daumen, dass die Maßnahmen Erfolg zeigen und wünsche Ihnen und Ihrem Mann alles Gute für die Zukunft“, spricht er Susanne Mut zu.
„Das ist doch mal was, Karl. Jetzt aber hopp, wach werden. Hast dich lange genug ausgeruht“, säuselt sie ihm mahnend ins Ohr.
12. Kapitel
Es ist angenehm warm. Mein ganzer Körper ist erfüllt von einem Kribbeln unter der Haut. Wie eine Katze, die sich in der Sonne rekelt, sich auf den Rücken legt, mit ihren Tatzen Mäuse aus Luft fängt, so möchte auch ich mich rekeln. Ich habe das Bedürfnis, mich ganz lang zu strecken, die Arme hoch über mir, die Beine zum Spagat gespreizt. Aber eine feste riesige Hand hält mich umschlungen, lässt mir gerade noch so viel Beweglichkeit, dass ich atmen kann. Ich will endlich raus aus dieser Umklammerung, mit nackten Füßen über eine mit Morgentau benetzte Wiese laufen, Schmetterlingen hinterherspringen, mich an ihrem ausgelassenen Treiben erfreuen. Sie umschwirren meinen Kopf, vollführen im Flug ein stetes Auf und Ab, eine Berg- und Talfahrt, als wollten sie mir zurufen: „Komm, spiel mit uns“, so klingt ihr leiser, zarter Flügelschlag. Es ist so angenehm warm …
Ich liege im Bett, das eigentlich ein Sofa ist, habe seit geraumer Zeit die Augen offen und bin mir nicht schlüssig, ob ich Oma rufen soll. Ich weiß, dass Opa ihr früh, bevor er zur Arbeit fährt, die Zeitung in den Korb steckt, den sie vom Küchenfenster aus hinabgelassen hat und an einer langen Schnur wieder heraufzieht. Jeden Morgen ist das so, am Donnerstag legt er ihr zusätzlich die „Wochenpost“ hinein. Also störe ich sie lieber nicht, beschließe ich und suche nach einer Beschäftigung. Die Holzwand hinter mir, von dem Schrank mit den Glastüren, hat Opa mit farblosem Lack gestrichen, den er für zwei Gurken und eine Handvoll Tomaten von einem Bekannten bekommen hatte. Dieser Lack hat es mir angetan. Schon am ersten Tag, als ich von meinem neuen Reich, dem kleinen Zimmer, Besitz ergriffen hatte, waren mir die Lackbläschen, die sich auf der Oberfläche gebildet hatten, aufgefallen. Ich fummelte an ihnen herum und stellte fest, dass sie sich wie Kaugummi abziehen ließen, wenn sie erst einmal eingerissen waren.
Es macht eine Menge Arbeit, jedes dieser Bläschen sorgsam aufzukratzen, ein Eckchen zu fassen und es langsam abzuziehen. Für die letzten muss ich sogar auf die Sofalehne steigen, damit ich sie erreiche. In diesem Moment wird mein Popo plötzlich von einem Schlag getroffen und gleich darauf von einem zweiten.
„Das gibt es doch nicht“, ruft Oma bestürzt, „was ist dir denn in den Kopf gekommen? Schau, wie das aussieht. Opa hatte sich so viel Mühe gegeben, nur weil der Lack alt war, hat er Blasen geschlagen. Trotzdem muss man die doch nicht abpopeln. Da wird Opa aber traurig sein, mein Lieber. Kannst ihm das heute Abend, wenn er von Arbeit kommt, selber beichten. Genau, das wirst du machen“, bestätigt sie den genialen Gedanken.
Ich beginne zu schwitzen am Rücken, die Hände werden feucht, ebenso wie meine Augen. Ich habe Angst. Opa wird sicher mit mir schimpfen, mir vielleicht auch eine gehörige Kopfnuss geben. Egal, was passieren wird, ich schäme mich schon jetzt.
„Ich mache es nie wieder. Ich verspreche es dir, Oma“, versuche ich mich zumindest bei ihr einzukratzen.
„Du machst mir Spaß. Das kannst du auch nie mehr tun. Hast ja alle Bläschen abgepopelt“, erinnert sie mich an meine Schandtat und sofort schäme ich mich noch mehr.
„Da nützt kein Versprechen, das musst du nun ausbaden. Und nun raus aus dem Bett und ab in die Küche, du kleiner Tunichtgut“, ruft Oma schon etwas verträglicher. Ich glaube, dass sie mir nicht mehr böse ist, denn sie hat mir Kräutertee gekocht und Brot mit Quark und einer dicken Schicht Zucker zubereitet. Die Welt ist zumindest bis heute Abend wieder in Ordnung, beruhige ich mich.
„Ich habe gestern mit Papa telefoniert“, beginnt Oma geheimnisvoll. „Er will dich jetzt immer am Samstag nach Feierabend abholen und dich übers Wochenende mit nach Hause nehmen. Am Sonntagabend bringt er dich für die Wochentage zu uns zurück. Ist das nicht toll?“, fragt sie mich prüfend.
Ich antwortete nicht darauf. Ich bin ein wenig traurig. Gerade am Wochenende ist es immer so schön im Garten.
Die Beichte bei Opa überstehe ich glimpflich, obwohl mir vor Angst fast das Herz in die Hose gerutscht ist. Gutmütig nimmt er meine Entschuldigung an und wir sind wieder Freunde. Nun warten wir auf Papa, doch nichts passiert.
„Wird bestimmt etwas dazwischen gekommen sein, vielleicht musste er länger arbeiten. Ich rufe ihn Montag an, versprochen“, versucht Oma zu trösten.
Tief im Inneren hatte ich mich doch gefreut, mit Mama und Papa zusammen zu sein, denn ich habe sie schon einige Wochen nicht gesehen. Nach meinem Bruder verlangt mich nicht so sehr. Er ärgert mich sowieso immer und prügelt mich bei jeder Gelegenheit. Darauf kann ich getrost verzichten.
Am Montag gehen Oma und ich gleich nach dem Frühstück hinunter in den Konsumladen und Oma telefoniert von dort mit meinem Papa. Ganz aufgelöst kommt sie von hinten wieder vor und zieht mich hinaus ins Freie.
„Zu Hause ist etwas Schlimmes passiert. Der Ofen im Wohnzimmer ist durchgebrannt. Die Feuerwehr musste ihn löschen und abtragen, er wäre fast nach unten durchgefallen. Nun ist alles verrußt und ihr bekommt eine andere Wohnung. Die müssen Mama und Papa jetzt herrichten“, erklärt mir Oma.
Schade, finde ich, das war bestimmt spannend, die Feuerwehr und der Brand und so. Aber eine neue Wohnung ist auch nicht übel. Vielleicht bekomme ich ein eigenes