Abends, da ist sie sicher, wird ihr Akku leer sein, wenn sie sich nach Hause schleppt und wach im Bett liegt, Tränen auffängt, bevor sie das Kopfkissen erreichen. Das nasse Taschentuch wird sie wie immer in ihrer Faust fest umschlossen halten und so auch am nächsten Tag erwachen.
8. Kapitel
Es ist ein unheimlicher Tag. Mama räumt seit Stunden in meinen Kleidungsstücken herum. Nimmt einen Stapel, sortiert einige Teile aus, legt sie in extra Häufchen auf das Bett, den Rest zurück in den Schrank. Ein großer brauner Koffer steht in der Ecke. Ich kann mich erinnern, dass Mama dieses Ungetüm gestern mitbrachte, als sie von oben kam. Ich habe es noch nie gesehen. Papa ist mit dem Großen zum Fußball gegangen. Zuvor hat er mich an der Tür noch kurz an sich gedrückt und mir über die Haare gestrichen. Es war nur ein winziger Moment dessen, was ich mir so sehnlichst immer wünsche, Zärtlichkeit und Geborgenheit. Aber gleichsam durchzuckte mich ein Schlag wie ein Stromstoß am Weidezaun, wenn man dagegen pinkelt. Irgendetwas würde geschehen. Ich fühle es, kann es aber nicht deuten.
Noch immer ist Mama vertieft in ihr Tun. Sie eilt zwischendurch in die Wohnstube, von da in die Küche und wieder zurück. Sie trägt Handtücher, Seife und Butter zusammen. Was will sie mit der Butter, diesem gelben weichen, so lecker Schmeckendem auf frischem Brot? Die brauchen wir doch, die kann sie doch nicht weggeben?
Weggeben, weggeben – hämmert es plötzlich im Kopf. Das ist wegen mir, die wollen mich loswerden.
Wie bei einem ausbrechenden Vulkan schießen Tränen über mein Gesicht, beginnt mein Körper zu beben. Der Rotz läuft den Tränen hinterher und vermischt sich am Kinn zu einem schlierigen Brei, der in Fäden auf das Hemd herabtropft. Mama hat keine Zeit für Sentimentalitäten.
„Hör auf zu flennen, wir fahren zu Oma und Opa, ist doch nur für ein paar Tage“, zischt sie zwischen Kofferdeckel und Kleiderhaufen hervor. „Kannst mir lieber helfen, bring die Sandalen und die braunen Schuhe her, die müssen noch mit“, befiehlt sie.
Wie angewurzelt stehe ich da. Ich will nicht helfen. Ich will doch nicht weg.
„Los, bewege deinen Arsch, sonst gibt es was drauf“, fordert sie energisch. Widerwillig bringe ich die Schuhe und stehe dann da, neben meiner Mama, hilflos, traurig, hoffend auf ein tröstendes Wort.
„Wasch dir das Gesicht und zieh die Popelinehose und das Matrosenhemd an, wir müssen los“, bellt sie.
Mit hängenden Armen, dem Schicksal ergeben, erledige ich die Handgriffe.
Wir stehen abmarschbereit. Mama mit dem großen Koffer und ihrer Handtasche, ich mit einem Beutel voller Spielsachen. Viele sind es nicht. Meinen kleinen zerrupften Teddy erkenne ich, Bauklötze unterschiedlicher Farbe lugen an der Seite hervor, und das Feuerwehrauto. Das hatte Papa mir in die Hand gedrückt, nachdem er zwei Tage weg gewesen war. Stolz drückte ich es damals an meine Brust und stellte es, als wäre das rote Ding der größte Schatz aller Zeiten, bedachtsam neben mein Bett. Jetzt ist das Auto für mich wertlos. Das Band zwischen mir und Papa ist zerrissen.
Mit der Straßenbahn fahren Mama und ich bis zur Zentralhaltestelle. Dort müssen wir umsteigen, Richtung Bernsdorf bis zur Endstelle. Zur anderen Bahn geht es über Gleise, rennend, wenn eine Straßenbahn einfährt, oder wartend, wenn eine andere anrollt zur Weiterfahrt. Ich werde gezerrt und gestoßen. Ich werde fast erdrückt zwischen den hektisch hin und her eilenden Menschen. „Sollen sie mich doch zerdrücken, mich von der Hand meiner Mama wegreißen“, denke ich und spinne in Gedanken die Geschichte weiter. „Ja, da kannst du schauen, Mama, dein Kleiner ist weggerissen, verschwunden zwischen all den Menschen. Du findest ihn nicht mehr. Ja, weine ruhig. Mich kümmert es nicht. Dich hat es auch nicht gekümmert, als ich traurig war, geweint habe, der Schmerz meine Brust zerriss. Jetzt hast du keinen Sohn mehr“, spreche ich in Gedanken den dramatischen Text.
„Komm endlich. Lass dich nicht so ziehen, sonst verlier ich dich noch“, ihre Hand klammert die meine fest wie ein Schraubstock.
Nach einer mir unendlich vorkommenden Fahrt erreichen wir die Endstation. Es beginnt bereits zu dunkeln. Ich habe Not, den großen raschen Schritten meiner Mama zu folgen. Nachdem sie an der Haustür geklingelt hat und wir die ersten Stufen im Treppenhaus hinaufgestiegen sind, kommt Opa uns entgegen. Wortlos nimmt er den großen Koffer aus der Hand von Mama, geht uns voran, die vielen Stufen hinauf bis zum vierten Obergeschoss.
Oma steht zur Begrüßung in der Wohnungstür, breitet die Arme weit aus und ich renne, so schnell ich kann auf die bunte Schürze zu, werfe mich an ihren Leib und klammere mich an, so fest ich kann.
„Ist schon gut, mein Kleiner, kommt rein, wir haben Abendbrot gemacht. Heute gibt es etwas ganz Leckeres. Makkaroni mit Tomatensoße und Jägerschnitzel. Das isst du doch so gerne“, sagt sie ganz ruhig zu mir, streicht mit beiden Händen über den Kopf, wischt, damit es keiner merken soll, meine Tränen mit der einen Hand aus dem Gesicht und mit der anderen berührt sie vorsichtig meine Schulter, um mir die Richtung in die Wohnung zu deuten.
Ohne Widerstand, doch schluchzend, gehe ich neben Oma her bis in die Küche. Da steht Tante Hedel am Herd und rührt bedächtig in einem blau emaillierten Topf, aus dem weißer Dampf aufsteigt. Es riecht lecker nach Tomatensoße und gebratener Wurst. Erst jetzt merke ich, dass mein Magen knurrt, ich habe seit heute früh nichts mehr gegessen. Tante Hedel kommt mit einem großen Schritt auf mich zu, den Kochlöffel mit der Hand fest umschlossen. Es sieht bedrohlich aus, als wollte sie mir eine gehörige Tracht Prügel verabreichen. Ich weiß, dass sie ganz lieb ist, wenn auch mit einer rauen Schale und oft verbittert blickend.
„Na, Kleiner, siehst ja richtig hungrig aus. Da kann es sofort losgehen“, spricht sie und ihr Kopf neigt sich zu meinem.
Ihr Mund gibt mir einen flüchtigen Kuss, der sich in diesem Moment angenehm warm anfühlt.
„Ab mit dir auf die Couch neben Opa und streitet euch nicht“, frotzelt sie liebevoll und widmet sich wieder den Makkaroni.
Ich sause unter dem Küchentisch hindurch auf die andere Seite, drängle mich durch den Spalt zwischen Unterkante Tischplatte und der Sitzfläche dieses Polstermonsters. Stolz nehme ich neben Opa Platz, rücke noch etwas näher an ihn heran, weil ich mich von ihm beschützt fühle.
„Da ist dein Platz. Ich brauche auch einen Fleck zum Essen“, ruft er mir augenzwinkernd zu und schiebt mich samt Sitzkissen ein Stück von sich weg.
Ich lasse die Unterlippe hängen, verschränke aus Protest die Arme über der Brust und ziehe nun auch noch die Mundwinkel nach unten.
„Komm auf meinen Schoß, bis das Essen auf dem Tisch steht“, lädt er mich versöhnend ein.
Wie ein Wiesel drehe ich mich herum, klettere auf seine Schenkel, kuschele mich an den dicken weichen Bauch. So ist es gut, spüre ich und schließe zufrieden und entzückt die Augen. Ich denke nach über dieses eigenartige Dreiergespann: Oma, Opa und Tante Hedel. Sie waren nach dem Krieg von Breslau geflohen, hatten alles stehen- und liegenlassen müssen. Mit einem Handwagenvoll des Nötigsten waren sie in Chemnitz angekommen, zuerst in einer Villa einquartiert und dann in diese Wohnung eingewiesen worden. Tante Hedel immer als Anhängsel mit. So hatte es mir Oma vor einiger Zeit erklärt. Tante Hedel wohnt in dem großen Zimmer ganz hinten rechts, neben dem Schlafzimmer von Oma und Opa. Das habe ich bei meinen Besuchen hier bereits erkundet. Auch das kleine schmale Zimmer links neben dem Schafzimmer habe ich schon gesehen. Da stehen ein Schrank mit Glasscheiben in den Türen, ein eckiger Tisch mit zwei Stühlen und ein tiefes, etwas durchgesessenes Sofa mit Blümchenstoff und geschnitzten Füßen. Der kleine schwarze Ofen in der Ecke wird nicht geheizt, das hatte Oma mir gesagt, weil sich dort sowieso keiner aufhält. Der lange Flur, für mein Empfinden