Pflegekräftemangel
Zur Überalterung der Gesellschaft hinzu kommt ein Mangel an qualifizierten Pflegefachkräften, welcher sich in Zukunft zu verschärfen droht. Da die Politik diesbezüglich weitgehend untätig blieb, lancierte der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) eine eidgenössische Volksinitiative für eine starke Pflege. Die Initiative hat zum Ziel, dem Pflegekräftemangel durch Massnahmen wie die staatliche Unterstützung der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften, Erhöhung des Ausbildungslohnes und der Definition und Förderung von Weiterbildung entgegenzuwirken. Der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments wurde am 19. März 2021 verabschiedet.[11]
Ein grosser Teil der Pflege- und Betreuungsaufgaben wird durch informell pflegende Personen, wie eben Angehörige, abgedeckt. Ungefähr 600‘000 Personen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene und gar hochaltrige Personen – übernehmen in der Schweiz Betreuungsaufgaben für Angehörige, wovon rund zwei Drittel der Erwachsenen mit Betreuungsaufgaben erwerbstätig sind. Die zahlenmässig grösste Gruppe an betreuenden Angehörigen sind Frauen und Männer im Alter von 50 bis 65 Jahren.[12]
Im Hinblick auf den drohenden bzw. den sich bereits verwirklichten Pflegekräftemangel wird der Pflege und Betreuung durch informell pflegende Personen immer grössere Bedeutung zukommen.[13]
Zwischenfazit
Aus diesen beiden Gründen – der Überalterung der Gesellschaft und der damit einhergehenden steigenden Anzahl von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen sowie dem Pflegekräftemangel – wird die Übernahme von Pflege- und Betreuungsaufgaben durch informell pflegende Personen an Bedeutung gewinnen. Durch die Kombination der Überalterung mit dem Pflegekräftemangel droht die Versorgung von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen durch formelle Pflege und Betreuung allein nicht mehr gesichert zu sein. Zudem stellt sich die Frage nach den Kosten, d.h. wie soll künftig sowohl die formelle als auch die informelle Pflege und Betreuung finanziert werden? In Bezug auf die informelle Pflege sind die Kosten zwar vorläufig aufgeschoben, aber lange nicht aufgehoben.[14]
Probleme
Absicherung der informell pflegenden Person
Ein grosses Problem ist die fehlende sozialversicherungsrechtliche Absicherung der informell pflegenden und betreuenden Personen. Oft wächst der Pflege- und Betreuungsaufwand so stark, dass die informell pflegende Person – wenn sie noch im Erwerbsleben steht – ihr Arbeitspensum reduzieren oder ihre Erwerbstätigkeit gänzlich aufgeben muss. Problematisch ist, dass unser Sozialversicherungssystem weitegehend an den Erwerbsstatus knüpft und auf kontinuierliche Erwerbsbiografien in Vollzeit bei einem einzigen Arbeitgeber ausgerichtet ist. Fällt eine Person nicht in dieses Schema, können ihr schnell Lücken in ihrer eigenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung, insbesondere der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge entstehen. Da die Höhe des Erwerbseinkommens auch massgebend Einfluss auf die Höhe von Taggeldern und Rente hat, wirkt sich Teilzeiterwerbstätigkeit direkt auf das Leistungsniveau aus.[15]
Auch wird die informelle Pflege durch die Sozialversicherungen kaum entschädigt, d.h. informell pflegende Personen erhalten keinerlei Vergütungen für ihren Erwerbsausfall.[16] Die pflegebedürftige Person erhält gewisse Leistungen, welche sie zur Entschädigung einer informell pflegenden Person einsetzen könnte. Die Beträge sind aber relativ tief angesetzt und reichen kaum, diese Personen angemessen zu entschädigen, geschweige denn auch noch ihre sozialversicherungsrechtliche Absicherung damit sicherzustellen.[17]
Da die Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung nicht existenzsichernd ist, und es in den meisten Fällen auch an der beruflichen Vorsorge sowie der 3. Säule fehlen wird, werden diese Personen später auf Ergänzungsleistungen oder sogar Sozialhilfe angewiesen sein.[18] Was dank informeller Pflege vorgängig eingespart wurde, wird später in Form von Bedarfsleistungen wieder ausgegeben. Das macht volkswirtschaftlich betrachtet wenig Sinn.
Die Erhaltung der Erwerbstätigkeit von informell pflegenden Personen dient nicht nur dazu, diese Menschen vor Armut im Alter zu bewahren, sondern ist auch eine wichtige Massnahme zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit. Erwerbstätigkeit stellt nicht nur ihre finanzielle Unabhängigkeit sicher, sondern sorgt auch dafür, dass sie sozial integriert bleiben. Hier stehen auch die Arbeitgebenden und die Sozialpartnerinnen und -partner in der Pflicht. Mit flexiblen und zuverlässigen Lösungen können sie zu einer besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung beitragen.[19]
Da die Pflege und Betreuung von Menschen mit gesundheitsbedingten Einschränkungen nicht einfach eingestellt oder aufgeschoben werden kann, braucht es ergänzend Entlastungsangebote, so dass informell pflegende und betreuende Personen, egal ob noch im Erwerbs- oder bereits im Pensionsalter, entlastet werden und sich erholen können. Auch wenn Betreuung und Pflege nicht immer eine Bürde sondern auch eine schöne und erfüllende Aufgabe sein kann, benötigt jeder Mensch einmal eine Erholungspause oder muss im eigenen Krankheitsfall die Gewissheit haben, dass die Versorgung ihres Angehörigen sichergestellt ist. Solche Entlastungsangebote müssen sowohl einfach verfügbar als auch erschwinglich sein.
Die Verbesserung der Situation informell pflegender und betreuender Personen muss also auf verschiedenen Ebenen angegangen werden.
Fehlende Definitionen
In der Juristerei kommt den Definitionen eine wichtige Bedeutung zu. Im Bereich der Angehörigenpflege wird die Problematik der fehlenden Definition von Begriffen besonders deutlich. Was umgangssprachlich als «Angehörige» bezeichnet wird, existiert im Recht nicht. «Angehörige» ist kein juristischer Begriff, weder im Sozialversicherungs- noch im Familienrecht. Sind damit Verwandte gemeint? Verwandte in auf- und absteigender Linie oder in Seitenlinien? Sind damit nur Blutsverwandte gemeint oder auch angeheiratete? Gehört das stabile Konkubinat auch dazu? Auch wenn wir uns vom Angehörigen entfernen würden und stattdessen von der (informell oder unentgeltlich) «pflegenden Person» sprechen, würde das kaum helfen. Dem sogenannten Pflegesubjekt kommt im Sozialversicherungsrecht nur eine untergeordnete praktisch Bedeutung zu: In der obligatorischen Krankenpflegeversicherung werden nur die Kosten entschädigt, welche durch einen anerkannten Leistungserbringer erbracht werden (Art. 35 Abs. 1 KVG). In der Regel sind pflegende Angehörige keine anerkannten Leistungserbringer, da sie die Anforderung von Art. 35 ff. KVG nicht erfüllen, weshalb ihre Leistungen nicht von den Sozialversicherungen vergütet werden.[20]
Die Problematik der fehlenden Definitionen zieht sich weiter: Auch die Pflegehandlung ist nicht klar gesetzlich definiert. Art. 7 KLV umschreibt lediglich den Leistungsbereich der ambulanten Krankenpflege oder der Pflege im Pflegeheim. Je nachdem, ob es sich um Grund- oder Behandlungspflege handelt, wird die Vergütung unterschiedlich gehandhabt. So entschädigt die Unfallversicherung nur Leistungen der Behandlungspflege, nicht aber der Grundpflege an und für sich. Nur die akzessorische Grundpflege, also grundpflegerische Verrichtungen, die mit der Durchführung behandlungspflegerischer Massnahmen nötig sind – wie etwa die grundpflegerische Körperpflege nach behandlungspflegerischer Darmentleerung – werden von der Unfallversicherung vergütet.[21]
Ein weiteres Problem ist die gänzlich fehlende Definition von Hilfe und Betreuung bzw. deren weitgehende Absenz im Sozialversicherungsrecht. Die erfolgreiche Pflege einer pflegebedürftigen Person erschöpft sich nicht in der blossen Durchführung der sozialversicherungsrechtlich abgedeckten Pflegehandlungen. Im Zusammenhang mit der Pflege sind ganz