Lehre und Praxis fanden zwar Wege, um die beiden Rechtsordnungen aufeinander abzustimmen.[38] Auch drängte der Bundesrat die kantonale Stiftungsaufsicht geradezu zur Kontrolle: «Die steueramtliche Kontrolle allein führt … nicht zum Ziel, wenn sie nicht durch eine ernsthafte, zeitlich unbegrenzte Kontrolle der Aufsichtsbehörde ergänzt wird.»[39] Doch die Gesetzgebung der Kantone blieb unterschiedlich, die kantonale Rechtspraxis uneinheitlich und die Rechtslage entsprechend unübersichtlich.
Auffallend ist, dass durch die «Hintertür» des Steuerrechts schon früh eine staatliche Regulierung der betrieblichen Personalvorsorge einsetzte.[40] In den Sozialwissenschaften wurde eine solche staatliche Sozialpolitik über das Steuerrecht auch schon als unsichtbarer oder verborgener Sozialstaat (hidden welfare state) bezeichnet.[41] Möglicherweise war es diese «Unsichtbarkeit», die es Max Huber in seinem Geleitwort zur immerhin 800-seitigen Dissertation von Hans Wirz erlaubte, mit Blick auf die Wohlfahrtseinrichtungen ein Hohelied auf die private Initiative, die freie Wirtschaft und die betriebliche Sozialpolitik anzustimmen.[42]
Eine spezialgesetzliche Regelung im Sinne von August Egger wäre allenfalls die Möglichkeit gewesen, dieses zunehmend unübersichtliche Dickicht von mehr oder weniger verborgenen steuerlichen (und stiftungsrechtlichen) Regeln durch klare und transparente (zivil-)rechtliche Grundsätze obsolet zu machen.[43] In dieser Lesart wäre die Spezialgesetzgebung sogar ein Beitrag gegen den staatlichen Bürokratismus und für eine Stärkung der zivilrechtlichen Rechtsstellung des Personals gewesen – aber um dies so zu sehen, hätte man Privatrecht nicht einfach mit der Freiheit und Freiwilligkeit der (Aktien-)Gesellschaft gleichsetzen dürfen.
Sozialgesetzgebung im Aktienrecht
Es gab denn auch schon früh Regeln zu Wohlfahrtseinrichtungen im Aktienrecht,[44] was auf den ersten Blick überraschen mag: Zumindest in früheren Jahrzehnten galt die Aktiengesellschaft als die Kapitalgesellschaft schlechthin, deren Seele das Gewinnstreben der Aktionäre war.[45] Und doch verankerte die Revision des Obligationenrechts von 1936 im Aktienrecht eine Norm zur Gründung und Unterstützung von Wohlfahrtseinrichtungen:
«Mit dieser Ordnung will dem Unternehmen der Aktiengesellschaften wenigstens nach einer Richtung in bezug auf die Gewinnverwendung eine soziale Funktion zugunsten der Arbeiter und Angestellten zugewiesen werden.»[46]
Der damals geschaffene Art. 673 aOR sah vor, dass die Statuten einer Aktiengesellschaft Fonds zur Gründung und Unterstützung von Wohlfahrtseinrichtungen für Angestellte und Arbeiter des Unternehmens vorsehen konnten. Dabei waren die Wohlfahrtszuwendungen aus dem Vermögen der Gesellschaft auszuscheiden und in eine Stiftung zu überführen.[47] Schliesslich hatte der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Rückerstattung der eigenen Beiträge (ohne Zins) bei Auflösung des Dienstverhältnisses.[48]
Nach der damaligen Lehre wies diese Regelung einen «ausgesprochen sozialpolitischen Charakter» auf, ja sie wurde sogar als Weiterentwicklung (!) des modernen Sozialrechts bezeichnet: Ihre Besonderheit sah man in der Freiwilligkeit der Wohlfahrtszuwendungen, was es erlaubte, die Wohlfahrtseinrichtungen vollständig ins Privatrecht einzuordnen.[49] Die Bestimmungen traten in beschränktem Masse an die Stelle der (im ersten Anlauf gescheiterten) staatlichen Altersversicherung. Das Bundesgericht bezeichnete Art. 673 aOR gar ausdrücklich als «Ausschnitt aus der eidgenössischen Sozialgesetzgebung»:
«Die durch das revidierte Aktienrecht an die Generalversammlung verliehene Befugnis, Beiträge zugunsten von Wohlfahrtseinrichtungen für das Personal zu entrichten, ist ein Ausschnitt aus der eidgenössischen Sozialgesetzgebung mit der Besonderheit, dass der Staat auf Eingriffe verzichtet und es dem einzelnen Unternehmen überlässt, die zweckdienlichen Anordnungen zu treffen. Diesem Vertrauen in den sozialen Sinn der Aktiengesellschaft muss entsprechen, dass sie nicht durch ihre Satzung die erhaltene Kompetenz wegbedingen darf.»[50]
Eine solche Wohlfahrt in privaten Händen und auf private Initiative lebte vom Vertrauen in den sozialen Sinn der Aktiengesellschaft, was das Bundesgericht dadurch förderte, dass es den Zuwendungen an Wohlfahrtseinrichtungen einen Vorrang vor dem Recht auf Dividende einräumte. In diesem (sehr bescheidenen) Umfang gewährte das Aktienrecht der Wohlfahrt die Vorfahrt vor dem Gewinnstreben einzelner Aktionäre; ihr Recht auf Dividende hatte zurückzutreten.[51] Die Wohlfahrtszuwendungen blieben aber dem Mehrheitswillen der Aktionäre überlassen: Über die Zuwendungen beschloss die Generalversammlung; sie waren Ausdruck einer «dringlichen sozialen Pflicht gegenüber dem Personal».[52]
Dies waren für die damalige Zeit bemerkenswerte Wandlungen im Wesen der juristischen Person.[53] Man kann darin ein schwindendes Vertrauen in die unsichtbare Hand des Marktes und einen vorsichtigen Eingriff der sichtbaren Hand des Rechts erblicken.[54] Die Regelung gründete aber letztlich mehr in einer sozialen (moralischen) Pflicht als in einer eigentlichen Rechtspflicht. Die Stärkung des Rechts war denn auch das besondere Anliegen der geplanten Spezialgesetzgebung.
Jäger und Paten des Polizeigeistes
Längst vorbei sind heute die Zeiten, in denen sich das Sozialrecht im Steuerrecht und im Aktienrecht verbarg. Der sichtbare und entfaltete Sozialstaat begnügt sich nicht mit der privaten Wohlfahrt und dem Vertrauen in den sozialen Sinn der (Aktien-)Gesellschaft. Staat tut Not. Hans-Peter Tschudi brachte das regulatorische Dilemma der privaten Wohlfahrt angesichts der gescheiterten Bemühungen um eine Spezialgesetzgebung treffend wie folgt auf den Punkt:[55]
«Warum sind die ursprünglich weitgehenden Pläne des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes auf einen so bescheidenen Revisionsentwurf zusammengeschmolzen? Ich erblicke die Ursache darin, dass zwischen der Freiwilligkeit in der Äufnung von Wohlfahrtsfonds und der gesetzlichen Regelung ein fast unüberbrückbarer Gegensatz besteht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Stiftung von Mitteln durch die Betriebe zur Unterstützung des Personals sehr zu begrüssen ist. Auch sind gesetzliche Bestimmungen, welche erreichen sollen, dass die Arbeitnehmer wirklich in den Genuss dieser Mittel kommen, erwünscht. Stellt der Gesetzgeber jedoch weitgehende Vorschriften auf, so empfindet der Unternehmer dies als unannehmbaren Eingriff. Wenn er freiwillig Mittel zur Verfügung stellt, will er in deren Verwendung möglichst nicht gebunden sein. Somit haben weitgehende gesetzliche Regelungen die Folge, dass die Unternehmer in der Bewilligung von Mitteln für Wohlfahrtszwecke zurückhaltend werden. Damit wird aber der beabsichtigte Schutz der Arbeitnehmer in sein Gegenteil verkehrt. Diese Problematik, welche der privaten Wohlfahrt innewohnt, hat zur Folge, dass sie die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer gegenüber den verschiedenen Risiken des Lebens, wie Alter, Krankheit, Invalidität, allein nicht erreichen kann. Dem Ausbau der staatlichen Sozialversicherung muss somit weiterhin die grösste Aufmerksamkeit geschenkt werden.»
Wie wir inzwischen wissen, hat auch die staatliche Wohlfahrt ihre Kosten. Gerade die berufliche Vorsorge ist ein gutes Beispiel für die Risken staatlicher Regulierung.[56] Überhaupt kann der Staat vielfach nur ungenügend kompensieren, was die Gesellschaft versäumt. Die Sozialziele brauchen zu ihrer Verwirklichung Staat und Gesellschaft. Das beste Rezept gegen überbordende staatliche Regulierung wäre daher: die Gesellschaft nimmt ihre soziale Verantwortung selbst wahr.[57] Der Staat hätte dann zwar den rechtlichen Rahmen zu setzen, müsste ihn aber nicht selbst ausfüllen. Die berufliche Vorsorge – dieses «Werk der Sozialpartner» – wäre an diesen Gedanken durchaus anschlussfähig (gewesen).[58]
Genau auf diese gesellschaftliche Verantwortung und deren rechtliche Absicherung zielte das einleitend erwähnte Votum von August Egger ab, der denn auch ein engagierter