Im Synthesebericht wurden die Resultate einer Bevölkerungsbefragung publiziert, mit den Unterstützungsaufgaben, die betreuende Angehörige übernehmen: Dazugehört Da-Sein, Beobachten, Finanzen und Administration, Hilfe im Alltag, Koordinieren und Planen, Aufpassen, medizinische Hilfe, Betreuen und Pflegen.[22] Davon ist wenig bis gar nichts von den Sozialversicherungen abgedeckt. Es gibt gewisse Geldbeträge, wie etwa die Hilflosenentschädigung, der Assistenzbeitrag oder unter Umständen die Ergänzungsleistungen, welche für solche Hilfs- und Betreuungshandlungen verwendet werden können.
Dabei sind genau solche (im Sinne des Sozialversicherungsrecht) nicht-pflegerischen Handlungen sehr wichtig, um Pflegebedürftigkeit zu verhindern, zu mildern und Heimeintritte zu vermeiden. Der Bedarf an Betreuungsleistungen gerade bei älteren Personen ist gross. Auch ältere Personen, die keine körperlichen oder kognitiven Einschränkungen haben, können einen Betreuungsbedarf aufweisen. Eine bedarfsgerechte Betreuung kann sich positiv auf die Gesundheit der betreuten Person auswirken und Heimeintritte präventiv verhindern, was wiederum Kosten spart, denn die Kosten für einen Heimaufenthalt sind i.d.R. höher als für die Pflege und Betreuung zu Hause.[23]
Insbesondere bei an Demenz erkrankten Menschen, fallen zu Beginn der Erkrankung oft vielmehr betreuerische als pflegerische Aufgaben im sozialversicherungsrechtlichen Sinn an, weshalb diese länger zu Hause betreut und gepflegt werden könnten, was meisten günstiger wäre als die Unterbringung in einer Alters- und Pflegeeinrichtung.[24]
Zwar sind solche Angebote der Betreuung vorhanden und einkaufbar, jedoch werden sie von den Sozialversicherungen, wenn überhaupt, nur ungenügend gedeckt. Die betreuungsbedürftige Person muss diese Leistungen selbst einkaufen, was in viele Fällen schlicht und einfach finanziell nicht möglich ist. Mitunter ein Grund, weshalb Betreuungsleistungen informell durch Familienmitglieder, Verwandte und Bekannte erbracht werden.[25]
«Versicherungsdschungel»
Ein weiteres grosses Problem ist das schweizerischen Sozialversicherungssystem als solches, welches nicht konzeptuell entworfen wurde, sondern organisch zu einem regelrechten «Versicherungsdschungel» gewachsen ist: Bereits vor dem ersten Weltkrieg wurden die ersten Sozialversicherungen geschaffen und aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, kamen immer mehr Versicherungen, ausgestaltet als Einzelgesetze hinzu. So ist ein unübersichtliches und teilweise auch lückenhaftes Sozialversicherungssystem entstanden, welches selbst für Experten nicht immer leicht zu durchschauen ist. Für jede einzelne Leistung müssen genau die Anspruchsberechtigung und die Voraussetzungen für den Leistungsbezug abgeklärt werden.[26] Es kommt deshalb immer wieder vor, dass Menschen durch die Maschen des sozialen Netzes fallen.
Die Finanzierung der Langzeitpflege ist «verzweigt und für das Verständnis sehr anspruchsvoll».[27] Auch der Bund hat dies als Problem erkannt, gerade in Bezug auf pflegende Angehörige.[28]
Neuste Entwicklungen
Die Politik wurde auf die Thematik der Überalterung, der steigenden Anzahl pflegebedürftiger Personen und der fehlenden sozialversicherungsrechtlichen Absicherung informell pflegender Personen aufmerksam. Der Bundesrat hat mit dem «Aktionsplan für betreuende und pflegende Angehörige» eine Grundlage geschaffen, um die Rahmenbedingungen für betreuende und pflegende Angehörige zu verbessern.[29] Die Umsetzung des Aktionsplans wird vom Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020» ergänzt. Dieses Förderprogramm hat die Situation von betreuenden Angehörigen erforscht und Grundlagen geschaffen, damit die Angebote für betreuende Angehörige bedarfsgerecht weiterentwickelt werden können. Unter anderem weist der Bericht darauf hin, dass je umfangreicher der Betreuungsbedarf ist, desto grössere die Gefahr ist, dass ein Haushalt mit Angehörigenbetreuung in die Armut abrutscht und dass Angehörige, die ihre Erwerbstätigkeit wegen der Übernahme von Betreuungsaufgaben aufgeben, besonders armutsgefährdet sind.[30] Deshalb ist besonders wichtig, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung zu verbessern.
Aus diesem Grund wurde ein Bundesgesetz zur Unterstützung von betreuenden Angehörigen geschaffen, d.h. es wurden in verschiedenen Bundesgesetzen Anpassungen vorgenommen, um Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung besser zu vereinbaren. Die erste Etappe des neuen Bundesgesetzes über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung ist bereits am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Es wurde die Lohnfortzahlung bei kurzen Arbeitsabwesenheiten geregelt, die Betreuungsgutschriften in der Alters- und Hinterlassenenversicherung ausgeweitet, der Anspruch auf den Intensivpflegezuschlag und die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung für Kinder angepasst. Mit der zweiten Etappe wird per 1. Juli 2021 der bezahlte 14-wöchige Urlaub für die Betreuung von schwer kranken oder verunfallten Kindern in Kraft gesetzt.[31]
Diese Änderungen sind zwar ein Schritt in die richtige Richtung, reichen aber bei weitem nicht aus, um die oben unter III. genannten Probleme zu lösen. So fokussieren die Massnahmen vor allem auf die kurzzeitige Pflege und Betreuung und bieten keine nachhaltigen Lösungen für Personen, die Menschen in der Langzeitpflegephase 2 betreuen.[32] Zudem fokussieren die Massnahmen in erster Linie auf die Betreuung und Pflege kranker Kinder und nicht auf Personen, welche ältere Menschen pflegen und betreuen. Bei alten Menschen wird sich deren Pflege- und Betreuungsbedarf mit der Zeit zunehmend erhöhen.[33] Aus Gründen der Gleichbehandlung sollten alle informell pflegenden Personen ungeachtet der Ursache der gesundheitlichen Einschränkung oder des Alters der gepflegten Person von solchen Massnahmen profitieren können. Sie alle nehmen Aufgaben wahr, auf die die gepflegte Person unter Umständen einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch hätte. Deshalb sollten künftige Vorlagen nicht nur Personen, die Kinder pflegen, berücksichtigen.
Zwar weist der Bund in seinen Berichten auf die demografische Entwicklung hin, erkennt das Problem der Überalterung der Gesellschaft, erkennt auch die Probleme, mit welchen pflegende und betreuende Angehörige zu kämpfen haben, schafft aber in seinem neuen Bundesgesetz zur besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung keine wirksamen Massnahmen, diese Probleme auch wirklich anzugehen.
Auch wird im Synthesebericht darauf hingewiesen, dass es für betreuende Angehörige schwierig ist, sich im «Leistungsdschungel» der theoretisch und real existierenden Entlastungsangebote zurechtzufinden und alle Möglichkeiten finanzieller Unterstützungen zu überblicken.[34] Statt das System zu vereinfachen und übersichtlicher zu gestalten, werden weitere Leistungen hinzugefügt.
Braucht es eine Pflegeversicherung?
Da unser Pflegesicherungssystem ein Neben- und Durcheinander verschiedener Pflegeleistungen von verschiedenen Sozialversicherungen ist, Pflegebedürftigkeit in leistungsrechtlicher Hinsicht kein eigenständiger Anknüpfungsbegriff und im «Schlepptau» von anderen sozialen Risiken (Invalidität, Alter, Unfall, Krankheit, Mutterschaft und Familienlasten) mitgeregelt ist und das Recht die Figur der «pflegenden Angehörigen» nicht kennt, stellt sich die Frage, ob nicht ein grundlegender Umbau unseres Sozialversicherungssystems angezeigt wäre und im Zuge dessen eine Pflegeversicherung geschaffen werden sollte.
Wie eine solche Pflegeversicherung konkret ausgestaltet sein soll, ist eine schwierige Frage. Andere Länder haben bereits Pflegeversicherungen, die in ihrer Ausgestaltung recht unterschiedlich sind.[35] Für die Schweiz stellt sich konkret die Frage, ob man einen weiteren eigenständigen Zweig schaffen will oder ob die Pflegeversicherung in eine bereits bestehende Sozialversicherung integriert werden soll. Daneben stellen sich zahlreiche andere Fragen grundlegender Natur. Soll Pflegebedürftigkeit als eigenes sozialversicherungsrechtliches Risiko anerkannt werden? Soll die Pflegeversicherung