Majdanek. Mordechai Strigler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mordechai Strigler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783866744745
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von Majdanek bedeutete.

      Schon allein der Marsch bis zum Tor, als Beine und Rücken sich wieder strecken konnten, als der Körper nicht mehr zwischen anderen Körpern eingeklemmt war, als man wieder dahinschreiten konnte, bewies, wie viel Wunderbares jeder Moment in seinem Schoße trägt, von welcher Gnade du in vollem Maße schöpfen kannst. Wen störte es denn, dass an deiner Seite bewaffnete Uniformen liefen und dir deine Schritte bemaßen, wenn du spürtest, dass in dieser minutenlangen gestreckten Haltung jeder Schritt in dir sang.

      Ein Tor nach dem anderen öffnete sich. Schlammige Adern zogen sich in alle Richtungen. Ein Meer von Drahtzäunen grenzte Luft von Luft ab und unterteilte die Welt in große viereckige Kästen. Überall standen Baracken und schauten mit den Augen ihrer kleinen Fenster sehnsüchtig durch die Drähte. Keine Menschenseele war zu sehen und es hatte den Anschein, als habe man hier leere Baracken eingesperrt.

      Man begann, uns durch krumme, abgeschirmte Wege zu treiben. Alle paar Minuten öffnete sich eine Drahttür und schloss sich wieder. An allen Seiten standen verschiedene Gebäude und warnten mit erschrockenem Ton leise durch ihre Wände flüsternd. Schließlich sahen wir einen riesengroßen nackten Platz. Tausende erschrockener Menschen lagen dort haufenweise, ausgestreckt auf der Erde oder liefen verzweifelt umher von einem Ort zum anderen. Bis zur Tür gingen wir mit ruhigen, geordneten Schritten. Aber als die Tür sich öffnete, wurden wir hineingestoßen ins Chaos und verschmolzen mit dem menschlichen Ameisenhaufen. Ein Blick zurück machte uns schnell klar:

      Wir sind eingesperrt!

      II

      Die Frauen hinter uns teilte man gesondert ab. Für sie gab es einen speziellen Sammelpunkt. Mehr als nur eine Frau hatte ihren Mann in den vorderen Reihen, einen Geliebten aus Lagerzeiten, oder einfach das einzige vertraute Gesicht, das ihr noch von früher geblieben war. Als sie die letzte Minute der Trennung kommen sahen, rissen sie sich wild schreiend aus den Reihen los und warfen sich zu Boden. Die Männer spürten instinktiv, wer da schreit und versuchten mit all ihren schlummernden Kräften zurückzubleiben, um nicht auf den leeren, abgeteilten Platz gestoßen zu werden. Zig Frauen mit zerschlagenen, blutigen Gesichtern und zerzausten Haaren kämpften sich zu ihren Männern durch und umklammerten sie, sie versanken noch einmal im anderen, als glaubten sie, dass noch ein Wunder geschehen könne und sie so zusammenwachsen würden, dass keine Macht sie mehr trennen könne. Die wenigen Kinder, die es geschafft hatten, bis jetzt im Lager zu überleben, stolperten hinter ihren Müttern her und hielten sich stumm und erschrocken an ihren Kleidern fest. Die SS aber ging schnell dazwischen und schlug auf ihre Köpfe ein, bis das Unglaubliche geschah und die Körper sich voneinander lösten. Die Menschen waren schon nicht mehr bei Sinnen, nur die Schläge zeigten ihnen, in welche Richtung sie sich zu bewegen hatten. Bald bildeten sich zwei riesige, formlose Gruppen, die aussahen wie ein mächtiger, zweigeteilter Organismus.

      Auf dem Platz, wo wir uns befanden, waren schon Tausende zusammengetriebener Juden. Sie lagerten müde und schauten mit getrübtem Blick in den Himmel. Eine kleine Gruppe war noch gesprächig und aktiv. Von ihnen erfuhren wir, dass es bis vor einigen Tagen noch Juden in der Gegend um Międzyrzec und Biała und im Siedlcer Kreis gegeben hatte. Vor drei Tagen hatte man sie in der ganzen Gegend eingesammelt, hierher gebracht und auf diesen Platz geführt. Auch bei ihnen hatte man die Frauen abgesondert. Und so warteten sie schon den dritten Tag. Sie erfuhren, dass dies ein besonderer Fall sei, denn gewöhnlich wurde man hier schnell ins »Bad« geführt. Aber genau in dieser Woche war ein größerer Transport Juden angekommen, und mit denen war das »Bad« ausgelastet. So lagerten und warteten sie schon den dritten Tag ohne einen Bissen zu essen und ohne Wasser.

      Nachts hatte es schon etliche Male geregnet und alle wurden durch und durch nass. Es gab ein paar umsichtige Leute, die Bettwäsche und Essenspakete mitgeschleppt hatten, für alle Fälle. Es waren die Optimisten, die gern Vorkehrungen trafen. Jetzt legen sie sich in den Dreck, decken sich mit dem Bettzeug zu und überleben die Nacht. Am Morgen ziehen sie ein Stück zerdrücktes Brot aus einem Beutel, der auch als Kissen dient, und bleiben auf diese Weise am Leben. Schlecht geht es denen, die geglaubt haben, man führe sie gleich in den Tod. Sie haben deshalb gar nichts mitgenommen. Sie fallen bei Nacht hungrig und müde auf die feuchte, matschigdurchweichte Erde und fühlen, wie die nächtliche Kälte sie in jeder Minute wie mit Spießen sticht.

      Am ersten und zweiten Tag waren sie wild vor Hunger. Es gab unter ihnen auch solche, die sich im Zorn auf diejenigen warfen, die noch etwas in ihren Beuteln hatten; aber sie waren zu schwach gegenüber denen, die noch zu essen hatten und mussten deshalb resigniert und müde nachgeben. Jetzt liegen sie hilflos da, ohne den Wunsch, noch einmal ihr »Glück« zu versuchen, und ohne den geringsten Willen, noch einmal einen Blick auf die Welt zu werfen.

      Die, die noch etwas zu essen haben und ein Päckchen mit Wertsachen, fühlen sich noch mit etwas auf der Welt verbunden, das schade wäre, es zurückzulassen. Sie klagen noch, weinen, raufen sich die Haare und ringen die Hände:

      Was wird sein? Was wird sein, was? Werden sie uns hier verhungern lassen? Sie beißen die Nägel voller Zorn und schmerzhafter Sorge. Jeder Einzelne von ihnen hätte sich verstecken können, fliehen, sich retten. Jetzt zerfrisst es ihn vor Zorn, er schlägt sich mit den Fäusten an den Kopf, als ob er sich deswegen selbst erschlagen wollte. Einer will dem anderen sein bitteres Herz ausschütten:

      Was war los mit mir? Warum bin ich nicht in den Wald? Solch ein gutes Versteck hatte ich!

      Ein anderer geht noch weiter mit seiner Abrechnung: Er hätte nach Eretz Israel fahren können, selbst unter den Deutschen hätte er es noch gekonnt. Aber das verfluchte »Glück« der ersten Kriegsjahre hatte ihm die Augen verblendet. Er ist wütend auf sich selbst: Ich könnte mich ohrfeigen! Aber es hört sowieso keiner dem anderen zu. Jeder schreit nur für sich, um den eigenen Schmerz rauszulassen.

      Ein großer Teil dagegen ist schon entrückt in eine andere Welt. Der Tod hat ihnen bereits seinen Vorboten in die Glieder geschickt, eine lähmende Schläfrigkeit. Er spielt mit ihnen, will sie nicht in einem Zug verschlingen. Sie schauen mit gleichgültigen Augen, als ob sie die ganze diesseitige Welt betrachteten.

      III

      An den Rändern des Platzes liegen aufgehäuft Berge menschlicher Exkremente. Unwillkürlich umfasst der Blick den ganzen Kot. Es fällt mir auf, dass jede Stelle mit menschlichen Ausscheidungen merkwürdig verschmiert aussieht, als ob Finger lange darin herumgewühlt hätten.

      Einer der Schwächeren steht plötzlich auf und beginnt zu laufen. Etliche der noch Aktiveren bemerken das, eilen zu ihm hin und stellen sich um ihn herum. Sie tun es sehr achtsam und schauen sich dabei nach allen Seiten um, ob ein SS-Mann von der Aufsicht es womöglich bemerkt. Zuerst vermute ich, dass sie es deshalb tun, weil es hier verboten ist, den Platz zu beschmutzen. Deshalb wollen sie jemanden, der sein menschliches Bedürfnis erledigen muss, vor den zornigen Blicken verbergen. Ich bemerke aber, dass sie ihn länger als gewöhnlich umstellen. Der Kreis steht schon zehn, fünfzehn oder zwanzig Minuten da. Jedes Mal dreht jemand aus dem Kreis den Kopf herum und redet nervös auf den ein, der etwas tut, vermutlich, um ihn …

      Ich näherte mich und sah etwas, das in mir einen Schreck, gemischt mit Ekel hervorrief. Der Mensch in der Mitte saß da und presste das Letzte aus sich heraus. Neben ihm lag schon ein frischer Haufen, in welchem er verzweifelt mit beiden Händen wühlte.

      Ich erinnerte mich an schon vorher wahrgenommene Zeichen und ein Gedanke befiel mich:

      Sind womöglich all diese Menschen verrückt geworden in den Tagen solch einer Warterei? Es ist abzusehen, dass auch wir hier noch etliche Tage warten müssen, bis wir an der Reihe sind. Auch wir können so wild werden, wild und machtlos vor verzweifeltem Hunger. Wieder fühlte ich den Schreck: Wird mir beschert sein, meine letzten Tage zwischen Verrückten zuzubringen? Und werde nicht auch ich selber verrückt werden, genau wie alle? Auf den Tod hatte ich mich schon mehr als ein Mal vorbereitet. Ich sah ihn in meiner Fantasie in all seinen Erscheinungsformen und stellte mich darauf ein. Mit diesem Annehmen fiel jede Furcht von mir ab. Eine Sache aber hatte ich nicht vorausgesehen: den Tod im Zustand des Wahnsinns! Und dieses Neue, mit dem du dich noch nicht auseinandergesetzt hast, mit dem du in Gedanken noch keinen Frieden geschlossen hast, hat dich wieder aufgeregt und aufgewühlt.

      Die