Majdanek. Mordechai Strigler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mordechai Strigler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783866744745
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Aber er lässt schnell ab von ihm, greift sich mit den Händen in die zerwühlten Haare und bricht in Gejammer aus:

      Wir sind verloren! Verloren!

      Der Klang seiner Stimme erinnert an den resignierten Ton eines abgelaufenen Weckers. Instinktiv gehe ich zur Tür. Ich will sehen, was draußen vor sich geht. Der neugierige Mündungslauf eines Maschinengewehrs versperrt mir den Weg mit einer Frage auf Deutsch:

      Wohin?

      Ich weiß selbst, dass ich mich mit meiner Antwort lächerlich mache:

      Ich muss nötig, auf den Abort …

      Die Büchse hat aber offensichtlich keine große Lust, mit mir zu debattieren. Sie schleudert mir nur ein Wort entgegen, in dem die Drohung aller Todesstrafen mitschwingt:

      Zurück!

      Zu allen Barackenfenstern sieht man Augen hereinfunkeln. Wehe mir! Wie viele finstere Zornesblicke! Die hat der Todesengel persönlich auf nächtlichen Wegen hinuntergeschickt ins Lager.

      Jeder rappelt sich hoch mit einer eigenen Wehklage:

      Wehe uns! Das Lager ist umstellt! Umstellt!

      Alle schreien gleichzeitig, ringen die Hände. Zitternde Finger beginnen unsinnigerweise, alle Lampen anzuzünden. Ein Hämmern an die Scheiben warnt:

      Licht aus!

      Geräusche von Schüssen wandern umher über das Barackendach mit boshaften, eilenden Schritten und lassen den anbrechenden Tag vor Schreck erblassen. Dem neuen Tag ist nicht besonders froh ums Herz. Er schaut trüb und grau herein durch die Scheiben und es scheint, damit wolle er sich wegen seiner Machtlosigkeit rechtfertigen:

      Ich kann euch gar nicht helfen, Kinder. Ich habe nicht die Kraft dazu.

      Und mit einem Mal spüren alle über sich die Flügel des Todes. Mein Kamerad Itzel zerreißt voller Zorn seine paar Hunderter-Geldscheine. Sie wehen in kleinen Fetzen über die ganze Baracke. Ich finde ein Päckchen Streichhölzer und reibe mit mutwilliger Absicht eines davon an. Ich will damit einen Strohsack anzünden, es soll alles drumherum in Flammen aufgehen! Meine Gedanken rufen mir mit großer Klarheit in Erinnerung, dass es um uns herum ein großes Lager mit vollen Benzinfässern gibt, und wir könnten gemeinsam mit unseren Bewachern in die Luft fliegen. Ein gehetzter Blick zur Seite lässt mein Streichholz verlöschen. Hände reißen mir die Schachtel aus den Fäusten. Jemand zügelt mich mit der Frage: Du weißt schon alles ganz sicher? Ich schweige verschämt. Verloren suchen meine Hände etwas. Sie fingern fiebrig in allen Taschen herum und können doch nichts finden. Sechs Monate lang trug ich ein Päckchen Gift mit mir herum. Ich hütete es und versteckte es bei jeder Durchsuchung, die im Lager stattfand. Es erleichterte mir beständig die Gedanken an meine letzten Minuten. Wenn die Zeit kommt, besänftigte mich die Hoffnung, werde ich tun, was nötig ist und damit dem schmutzigen Tod durch ihre Hände entkommen. Jetzt suche ich in den Hosentaschen, im Bettrand, auf der Erde. Verzweiflung umklammert mich, weil ich den Tod in der eigenen Tasche nicht finde. Wie im Nebel erinnere ich mich, dass ich ihn in meinem alten Kittel vergessen habe, auf der Arbeitsstelle.

      Mein Alter Ego hänselt mich wegen meiner Gefühle: Was ist, gnädiger Herr? Sogar den Tod willst du anders haben, abgesondert von den anderen? Zehn Minuten, bevor alle umkommen, willst du auf besondere Art sterben, damit man dich und dein Verlöschen bemerkt und über dich redet?

      Machtlosigkeit zerreißt mir das Herz und zerstreut meine Gefühle in alle Richtungen. Ich verliere den selbstständigen Gedankengang und gehe unter im allgemeinen stürmischen Gewirbel. Bald aber spüre ich, wie eine tollkühne Klarheit mich erfasst und mich in einen abgelegenen Winkel treibt.

      IV

      Inzwischen sind alle Leute hier verrückt geworden. Der kleine Josef-Ozer schraubt die Seiten der Betten auf. Sie streben auseinander wie entfernte Verwandte und die Bretter in der Mitte fallen mit einem resignierten Ton heraus. Und mitten im allgemeinen Geschrei und Gejammer steht der kleine Lausebengel und kugelt sich vor kindlichem Gelächter darüber, dass ganze Betten, die solange menschliche Körper auf ihren Rücken getragen haben, jetzt durch nur eine Bewegung seiner halbkindlichen Hände auseinanderfallen. Es fliegen Strohsäcke herum, vergessene Knöpfe, Lagerlöffel, ein aufbewahrtes Stück trocken Brot; wie es scheint hat der Kleine schon lang mit solchen boshaft-zerstörerischen Gedanken gespielt. Nur die allgemeine, strenge Ordnung hielt ihn davon ab. In dem jetzt herrschenden Tumult lässt der 15-Jährige seinen Begierden freien Lauf, sein Gesicht strahlt mit allem Glück der Welt.

      Es sind schon etliche Stunden, dass man keinen Schritt hinausgehen kann. Der Schreck fuhr den Menschen in die Eingeweide, man verrichtete seine Notdurft mitten in der Baracke, auf dem Fußboden. Andere wollen eine letzte Rache nehmen, sie kriechen hinauf auf die Betten, quetschen das letzte aus sich heraus, schmieren alles ein, was ihnen unter die Hände kommt und schreien dabei über alle Maßen.

      Der kleine Abele, der Lebensmittel ins Lager schmuggelt und Handel treibt, ist schon ganz heiser vom sinnlosen Schreien. Er schleppt aus irgendeinem hintersten Winkel einen Korb mit rohen Eiern hervor. Seine Stimme bittet: Leute! Wer will, soll nehmen! Eine Wüste werde ich ihnen hinterlassen! Etliche zögernde Hände strecken sich aus in hungriger Gier. Sie wissen selbst nicht, was hier vor sich geht. Die Wildheit in ihren Augen kann gar nicht glauben, dass Abele heute kostenlos austeilt. Aber alles drum herum ist versunken in sich selbst und in den eigenen Jammer. Abele steht finster da bei seinem Korb mit Eiern und fordert ein letztes Mal mit verlöschendem Kratzen seiner ausgetrockneten Stimme auf:

      Nehmt, ich bitte euch, nehmt!

      Plötzlich überkommt ihn der Zorn. Als ob er durch irgendetwas beleidigt worden wäre, springt er hinein in den Korb! Unter den Eiern entsteht Panik. Eines drängt sich ans andere, vergießt dabei seine gelbe Galle. Unter Abeles Schuhen dringt ein kratzendes Geräusch hervor. Auf seinen Schuhspitzen erscheint eine gelbe glänzende Flamme. Doch seine Augen sehen jetzt gar nichts mehr. Das Gesicht ist vertieft in leidenschaftliche Arbeit. Schon sind alle Eier aufgebrochen. Eine schwere, fette Flüssigkeit quillt durch die kleinen Löcher im Korb und umschlingt ein vertrocknetes Stück Brot, das von einem zerstörten Bett hergeflogen war. Aber Abele steht immer noch, hebt die Füße und tritt zu, immer wieder mit demselben Zorn.

      Mehr Erfolg dagegen hat der dicke Kurt, der Händler gedrehter Zigaretten im Lager. Aus dem doppelten Brett unter seinem Bett zieht er etliche kiloschwere Packen mit gelbem feingeschnittenem Tabak hervor. Er lockert und zerpflückt eigenhändig die feuchten festgepressten Ballen und wirft alles in die Mitte der Baracke.

      Leute! Wer will, soll rauchen! Nehmt euch auch mit für den Weg! Das ist das Beste für solch eine Reise! Es zieht schon alle Hände dort hin, ich fühle mich wie ein Schlafwandler. Er erkennt mich aus der Ferne und bringt mir ein einzelnes Päckchen. Er ist verlegen und aufgewühlt, er will sich bei mir entschuldigen, dass er mich mitten in meinen letzten Gedanken stört. Er sucht irgendwelche anderen Wörter, kann aber keine finden. So wiederholt er nur immer wieder:

      Es ist das Beste für solch einen Weg, das Beste.

      Ich reiße inzwischen von irgendwoher ein großes Stück Zeitung ab, stopfe es mit Tabak und stecke es in den Mund. Eine zitternde Hand reicht Feuer. Ich nehme einen Zug von dem Rauch und fühle mich, als wäre ich aufgesessen auf einen feurigen Streitwagen und aufgefahren in den Himmel.

      In der Baracke stieg ein Gestank auf, der sich in der Luft mit umherirrenden Federn und abgerissenen Fetzen von Geschrei stieß. Fliegende Flicken dreckiger Wäsche tanzten einen verrückten Wirbel in der Luft und liebkosten für eine Weile den beginnenden Tag.

      I

      Große Lastwagen, besetzt mit Sturmtrupps, kamen zum Lager gefahren. Ihr Schreien, ihre schweren, rohen Stimmen, drangen bis in die Baracke. Jemand in einer Ecke stellte resigniert fest: Jetzt sind sie da! Die Tür wurde aufgerissen. Der Gestapo-Chef Langenkämpfer1 blieb auf der Schwelle stehen. Es wurde still, als wären alle von geheimer Zauberhand erstarrt.

      Er machte es kurz:

      In fünf Minuten muss alles bereit zum Abmarsch sein!