Majdanek. Mordechai Strigler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mordechai Strigler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783866744745
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Anzahl Stimmen aus den Ecken antwortete aus unterwürfiger Gewohnheit:

      Jawohl!

      Der größte Teil der Baracke blieb aber in tiefes Schweigen versunken. Niemand glaubte mehr den Reden einer deutschen Uniform. Aber einen Rat wusste man auch nicht. Man muss sich schnell für den Weg vorbereiten. Jeder will den letzten Gedanken an Widerstand damit abtöten, dass er ein Bröckchen Hoffnung in die Herzen wirft. Und vielleicht will die Gestapo genau das? Langenkämpfer geht hinaus. Hektisch verteilt die Menge sich über die riesige Baracke. An allen Betten stehen aufgerissene Kästchen voller Armseligkeit, die man von Ghetto zu Ghetto, von Lager zu Lager geschleppt hatte. Jetzt liegen die zerdrückten Sachen da und sorgen sich, dass sie bald verwaist zurückgelassen werden. Die Decken auf den Betten sind unordentlich aufgerollt, als ob sie sich vor Schmerzen krümmten. Die strohernen Kissen fallen mit stimmlosem Rascheln herab, jedem Einzelnen zu Füßen, und bitten um Mitleid. Fiebernde Hände beginnen zu packen, man packt und weiß doch nicht, was. Man hebt etwas auf und steckt es in den Sack; dann wirft man es wieder hinaus; man nimmt es wieder in die Hände. Das alles geschieht noch dazu in knapp bemessenen Sekunden.

      Die Wachen hinter den Fenstern werden spärlicher. Unser Fenster geht hinaus auf die gegenüberliegenden militärischen Kasernen. Deshalb ist hier eine starke Wache nicht so nötig.

      Der kleine Josef-Ozer steht die ganze Zeit und schaut durch das Fenster. Der Kasernenhof ist jetzt leer. Hohe Heuhaufen türmen sich auf, Futter für die Militärpferde. Der Kleine beißt mit den Zähnen in die geballte Faust. Irgendetwas ruft ihn dort in einer Sprache, die nur ihm verständlich ist. Auch ich stehe und gucke hinaus durch das Fenster. So nehme ich Abschied von meiner Stadt. Der Kleine sieht mich und flüstert mir still zu: Ich hau ab! Ich will ihm nichts entgegnen. Sein Gesicht sieht nicht im Mindesten jüdisch aus. Wer weiß? Vielleicht kann es ihm gelingen. Das Herz lechzt nach etwas Aufregendem, das geschehen soll. Während man selbst wie gelähmt ist, wünscht es doch risikofreudig, dass zumindest jemand anders etwas tun soll, wenigstens einer. Der Kleine hat unterdessen ganz ruhig den untersten Luftschlitz des Fensters geöffnet. Im großen Lärm bemerkt es niemand. Er steckt den Kopf in das offene Loch und zwängt den Körper vorsichtig ein Stück hindurch, dann noch ein Stück. Beim Bauch wird es schwierig. Dafür zieht aber dann das Übergewicht den unteren Teil des Körpers schnell hinunter. Man hört einen harten Fall. Einen Moment reißt sich etwas los von meinem Herzen. Des Jungen katzengleiche Dreistigkeit hat mich in ihren Bann gezogen. Ich denke nicht mehr an mich. Das eigene Leben ist bereits wie aufgegeben und es gibt nichts mehr, worüber nachzudenken wäre. Hier dagegen, hier hat sich jemand auf den Wettkampf eingelassen, und alle meine Sinne beschäftigen sich mit ihm, geradeso, als ob mir hier gar nichts drohen würde. Ich fiebere vor Ungeduld und Neugier, als hätte ein Teil von mir sich mit dem Jungen losgerissen. Ich zittere: Hört nicht womöglich jemand von der Wache den Fall? Ich erwarte einen Schuss. Stille. Dann erscheint der Kleine auf dem Drahtzaun, und schon ist er im Kasernenhof. Und immer noch nichts.

      Eine Vielzahl von Augen folgt inzwischen gebannt dem Spiel. Der Kleine, der sich jetzt bereits im Hof befand, hob spielerisch grüßend die Hand, gerade als ob er irgendwo einen Spaziergang machte, als ob er gespürt hatte, dass man ihn von der Baracke aus beobachtete − und verschwand.

      Alle waren wie versteinert: Heißt das, man hätte sogar jetzt noch fliehen können? Einfach so? Über den Zaun in die Kaserne, sich irgendwo bis zur Nacht verstecken und am Abend über den Zaun springen, in eine abgelegene Gasse? Neid griff um sich auf den Jüngsten und einzig Kühnen, der es gewagt hatte. Dabei fühlte aber jeder irgendwie eine innere Befriedigung darüber, dass niemand bemerkt hatte, wie der Kleine sich hinausgestohlen hatte. Geradeso, als wäre er jedermanns Botschafter. Jeder Einzelne wurde mitgerissen von der einen Sorge:

      Oh weh, man soll ihn bloß nicht schnappen!

      Bald ging ein schweigender Wächter unter dem Fenster durch, der keine blasse Ahnung davon hatte, was hier vor einigen Sekunden passiert war.

      II

      Die ersten Schläge mit Gewehrkolben rissen die Menschen aus ihrer Verwunderung. Alle drängten in Panik zur Tür. Aus der Frauenbaracke klang lautes Weinen herüber. Von beiden Seiten drängten die Menschen in den Hof hinein. Einer fiel über den anderen, Männer über Frauen, und man spürte nicht einmal, wann man fiel und wann man wieder aufstand. Die ineinander verflochtene Menge wurde von schwarzuniformierten Volksdeutschen tiefer in den Hof hineingedrängt. Dort begann man, mit Hilfe von Gummischläuchen gerade Reihen aufzustellen.

      So wie die Panik noch vor ein paar Minuten die Menge aufgewirbelt hatte, entfaltete sie jetzt eine suggestive Wirkung in entgegengesetzter Richtung. Sie tötete in jedem den unbändigen Drang zu laufen, zu ungezügelter Bewegung. Der Schreck stellte die Menschen auf wie gespannte Saiten und formte aus ihnen gerade Fünfer-Reihen. Der jüdische »Lagerkommandant« kam mit seinen Gehilfen gelaufen. Er war erschrocken, und doch fühlte er sich etwas dreister. Er ging mit untertänigem Lächeln zu seinem Oberscharführer:

      Muss ich mich auch in die Reihe stellen, mit all den anderen?

      Jener aber kannte ihn bereits nicht mehr. Sein Blick schaute über ihn hinweg, irgendwo in die Ferne. Er gähnte nur träge in seiner frühmorgendlichen Schläfrigkeit und brummte mit einem langen Gähnen:

      Natürlich!

      Der Kommandant wollte noch etwas sagen, etwas erklären, aber eine feste Hand griff ihn und stieß ihn in die Reihe. Es war nichts zu machen. Jemand in der Reihe wollte sich selbst einreden:

      Es könnte doch sein, dass es bloß ein allgemeiner Appell ist, und gut möglich, dass man vielleicht nur einen Teil raussuchen will, die Schwächeren?

      »Die Schwächeren«, ein Begriff, der schon immer den Kampfeswillen in den kräftigsten jüdischen Muskeln abtötete. Doch die Zeit ließ kein langes Nachdenken zu. Die SS-Männer auf den Lastautos langweilten sich. Von dort kamen ständig Schreie:

      Schneller da! Schneller mit der Schweinebande!

      Und wieder begann das Treiben. Dieses Mal durch das Tor auf die Rampe hinauf.

      Das Beladen der Lastwagen ging schnell. Zuerst besetzte man die Wagen dicht an dicht, dann warf man die Letzten hinauf über die Köpfe der anderen. Man wurde hineingepresst und einer verflocht sich mit dem nächsten. Es war nicht möglich, sich aufzurichten oder einen Fuß zu bewegen. Man musste mit gekrümmtem Rücken dasitzen und auf dem Buckel diejenigen tragen, die sich nicht in das Gedränge hineinquetschen konnten. Jemand wollte sich aus einer Ecke heraus aufrichten, um sein eingeschlafenes Bein unter einem anderen hervorzuziehen. Doch ein Schlag von der Seite ließ bei ihm das Blut fließen und ihn in einer erstarrten Position sitzen bleiben.

      Als letzte sprangen die SS-Leute auf. Sie traten mit den Stiefeln über die Köpfe und schlugen sich durch bis zum Dach des Busses. Fünf Begleiter auf jedem Auto wachten über die Bewegungen. Als ob es möglich gewesen wäre, sich aus diesem zusammengepressten Gemenge menschlicher Gliedmaßen herauszureißen.

      Schon sind die Frauen auf den letzten Wagen verladen. Ein paar Wachmänner springen zufrieden auf den Wagen hinauf und amüsieren sich reitend und Stiefeltritte austeilend auf den gekrümmten zarten Frauenrücken. Unsere nächtlichen Wächter und die uniformierten Volksdeutschen bleiben am Tor stehen. Auf ihren Gesichtern ist freudige Ungeduld zu erkennen. Sie wissen, dass die Juden allerlei Sachen und Gold versteckt haben. Sie warten nur auf die Gelegenheit, dass man ihnen erlaubt, wieder hineinzugehen und das Lager zu durchsuchen. Dem Chef des Transports ist die ganze Sache schon zuwider. Er beeilt sich, er will nicht einmal hören, was der Oberwachmann ihm auseinandersetzen will. Der will ihn, so sieht es aus, davon überzeugen, dass noch etliche fehlten und man deshalb so lange suchen müsse, bis man sie gefunden habe. Der Transportchef will aber nichts davon hören. Er schreit nervös auf den Oberwachmann ein. Abgerissene Satzfetzen gelangen bis zu uns:

      Erschießen … und fertig!

      Es kommt das Zeichen für die Fahrer. Die Autos lösen sich erschrocken von der Stelle, wie aus tiefem Schlaf aufgeschreckt. Die Wachmänner am Tor verabschieden uns spöttisch:

      He, Jiddelech! Führt euch dort ordentlich auf, in Majdanek!

      Ein