Man geht tagsüber wieder zur Arbeit und kommt nachts zurück in die verlausten Baracken. Man isst schweigend und schaut lange, sehr lange einer den anderen an, dann fällt ein Wort, ein Satz nur, in dem alle Reden und alle Pläne eingeschlossen sind:
Schon der 29.!
Der 30.!
Man war ermüdet davon, Tag um Tag den Schrecken in den Gliedern und in den Augen wachzuhalten. Man wartete nur noch − auf nichts mehr wartend.
Und eine Nacht begann, wie alle Nächte im Lager. Verräuchert vom Barackenofen, gepeinigt vom Monatsende. Nur das Entsetzen, versteckt im tiefsten Winkel des Herzens, warnte mit ersticktem Mund ein letztes Mal zaghaft:
Die Nacht zum 31.!
II
Gegen 12 Uhr in der Nacht trug es alle hinüber in eine andere Welt. In dieser Nacht kamen nicht einmal die ukrainischen Wachposten betrunken in die Schlafbaracke herein. Sie vergaßen sogar, ein fröhliches Spektakel in der benachbarten Frauenbaracke zu inszenieren. So hatte jeder die Gelegenheit, sich im Traum zu holen, was das wahre Leben ihm genommen hatte. Aber die heutige Ruhe ist eigenartig verdächtig und unangenehm. Es ist zu ruhig. Das Herz war schon so an den »normalen« nächtlichen Schrecken der einfallenden betrunkenen Wachposten gewöhnt, dass es fast zu einer Art betäubender Sucht geworden war. Im Angesicht derer, in deren Händen du vogelfrei bist, beginnt das schläfrige bisschen Leben von neuem, in den Gliedern zu pochen, du spürst eine zappelnde Angst vor etwas; doch dabei freut sich etwas in dir, das tiefer ist als du selbst, weil du dadurch gleichzeitig erkennst, dass da noch etwas ist, dass du noch etwas besitzt, um dessentwillen du zittern musst, mit dem du vorsichtig umgehen musst.
In der Einsamkeit wird die ständige Furcht der einzige Wecker des erstarrten Lebens. Die reale dröhnende Angst wird dir vertraut wie ein Freund. Und jetzt, da es so still ist, entsteht gleichzeitig eine Leere um dich herum. Es fehlt etwas. So als sehntest du dich danach, die Gefahr zu fühlen, die von einem nahebei lauernden Gewehr eines Betrunkenen ausgeht. Die Hilflosigkeit wird ohne den allnächtlichen grausamen Trubel noch entsetzlicher.
Das erschrockene Schnarchen müden Atems sägt sich knirschend in die Stille der dunklen Baracke. Nur noch hier und da sitzt ein gebeugter Schatten auf der Bettkante, in Gedanken versunken, dabei gar nichts denkend.
Ein Schatten von gegenüber winkt meinem zu:
Motl?
Ein Wortbrocken löst sich von meiner müden Trägheit:
Was ist?
Und wieder wird ein leises Wort zu mir herübergetragen, auf dem Rücken eines verschlafenen Krächzers meines Bettnachbarn:
Warte!
Der dürre Körper meines Nachbarn wiegt sich über mir mit einer fremden Unruhe. Seine großen, unruhigen Augen dringen in mich ein bis in die tiefsten Tiefen. In der Dunkelheit haben sie einen gespenstischen, irren Glanz. In meiner diffusen Hoffnungslosigkeit erkenne ich nicht, wer da redet: sein Mund, seine Augen, seine Hände oder seine Kleidung? Mein Verstand erscheint mir verhüllt von einem dünnen Vorhang. Ich spüre nur, wie seine Gedanken mich umklammern.
Motl, und wenn doch? Vielleicht noch heute?
Seine Finger deuten dabei durch das vergitterte Barackenfenster auf den Stacheldraht beim Zaun.
Schon hundert Mal habe ich diese Frage und diesen Plan gehört, schon tausend Mal selber darüber gegrübelt. Die Antwort ist mir selbst so klar, dass die Lippen nicht mehr beim Verstand nachfragen müssen, sondern jedes Mal selbstständig antworten:
Unmöglich!
Aber jetzt bin ich schon zu müde. Mein Verstand ist so verdunkelt und ausgezehrt, dass er dieses einzige, mechanische Wort der Resignation nicht mehr über die Lippen bringt. Also schweige ich. Mein Kamerad nimmt es als Zeichen der Zustimmung. Er stachelt mich weiter an mit seiner glühenden Ungeduld:
Heißt das, du bist bereit? Soll ich hinausgehen und einen Blick auf die Zaunpfähle werfen?
Er wartet nicht einmal meine Antwort ab, sondern schlurft hinaus aus der Baracke. Für eine Minute bleibe ich allein unter Schlafenden. Nüchterne Wachsamkeit schüttelt mich. Ich fühle mich wie auf einem Friedhof. Schwach höre ich es in mir fragen: Schlafen sie nur, diese Menschen um mich herum, auf ihren grabähnlichen Betten?
Die gefühlte Gefahr, die sich monatelang in der Luft, zwischen den Betten und in den Winkeln zusammengeballt hatte, fühlte sich plötzlich kräftiger an. Sie senkte sich herab und gab mir mit einem Flügel einen Schlag an den Kopf. Es war, als ob alle Schlafenden ihre Schrecken des Tages im wachen Diesseits zurückgelassen hatten, und all diese Schreckensbrocken sammelten und verknoteten sich zu einem Körper. Dieser ganze schwarze Gedanken-Koloss, der sich nicht durch die weiten Grenzen des Schlafes hindurchreißen konnte, warf sich mir wie einem Erlöser zu Füßen. Alle müden Wände, die meine Gedanken im festen Griff hielten, fielen mit einem Krachen zusammen. Eine klare Stimme schrie mir mitten ins Mark: Hier ist der Tod! Ich wachte auf und wunderte mich über mich selbst: Warum habe ich es bis jetzt nicht gesehen? Wie schafft man es zu leben in einer Welt, wo man dermaßen schläft? Die Gefahr bricht in Lachen aus, aus jedem Winkel tönt ihr Gelächter über meine machtlose Erkenntnis. Mein Verstand wird plötzlich gesprächig und ich lausche mit beiden Ohren:
Nein! Er wird es nicht lange halten, der Deutsche, dieses Lager mit Menschen, aus denen die Müdigkeit herausschreit und aus deren Augen ständig die Furcht blickt. Sprechen ihre Münder nicht instinktiv über den Tod, der sicher kommen muss? Ich fühle mich hier plötzlich wie ein Fremder, ein Verlassener. Der Schweiß bricht mir aus: Was tue ich hier? Was tue ich hier? Von allen Seiten schreit es auf mich ein: Flieh! Flieh! Sogar ohne ein »Wohin?«. Nur mit solchen erschöpft Schlafenden nicht zusammen sein!
Mein Kamerad hatte sich inzwischen wieder hereingeschoben durch die Tür. Seine Schritte hatten während des Weges den fieberhaften Schwung verloren, seine Augen waren draußen erloschen. Er sah schlapp und halb bewusstlos aus. Als er näher kam, winkte er nur kummervoll mit beiden Händen wie eine geschächtete Gans mit den Flügeln und brachte kaum noch einen schwachen, verzweifelten Ton heraus:
Zu spät!
Zugleich aufgeregt und benommen erzählte er:
Verstärkte Wachen um das Lager herum, alle zwei Schritte ein Posten. Diesmal döst keiner von ihnen an die Wachbude gelehnt. Durch einen kleinen Spalt im Zaun sah er, wie alle Augen auf das Lager gerichtet waren.
Ich weiß nicht, wen ich damals beruhigen wollte: ihn oder mich? Vielleicht wollte ich auch nicht den Toten auf ihren Lagerstätten das letzte Lächeln rauben, das sie im Traum bei ihrem Kind sahen. Die Gedanken scherten sich schon damals um keinerlei Kontrolle und spazierten im Kopf umher, wie es ihnen gefiel. Nicht auf meine eigene Rede achtend, sprach ich zu ihm und bat ihn: Still! Ruhig! Wecke sie nicht auf!
Ohne es selbst zu wissen, spürte etwas in mir, dass die letzte Stunde der nächtlichen Stille geschlagen hatte. Jetzt wollte ich sie noch einen Moment aufhalten, nur noch einen Moment, solange, bis alles von selbst geschehen würde.
Und die Stunden haben sich einschläfern lassen, wie Kinder, die lange geweint hatten.
III
Halb drei. Eine Gestalt, halb nackt, klettert von einem Etagenbett herab und geht hinaus, in den Augen kleben noch Reste von warmem Schlaf. Das Klosett ist dicht bei den Drahtzäunen, neben einem Wachhäuschen, und es ist zu schade, für diesen Gang von nur wenigen Minuten aufzuwachen. Die Füße scharren beim Gehen und die Augen fallen immer wieder zu.
Zurück kommt er schnell und aufgeregt. Alles in ihm bebt; wie benommen geht er mit wildem Geheul auf den erstbesten am Rand Schlafenden zu:
Und ihr schlaft? He, ihr schlaft?
Da schüttelt er bereits