Irgendjemand der Herumstehenden stellte die Frage:
Bist du überhaupt sicher, dass du es hinuntergeschluckt hast?
Die Antwort hörte ich schon nicht mehr. Das Wort traf meine Gedanken und zerriss mit einem Schlag alle meine Überlegungen, die ich dort herumgewälzt hatte.
»Hinuntergeschluckt!« Und schon öffnete sich mir ein breites Tor zu einer neuen Welt voller Sorgen und verzweifeltem Ringen.
Es stellte sich heraus, dass am ersten Tag ihrer Ankunft verdächtige Gestalten an den Zäunen auftauchten und mit leiser Stimme durch die schmalen Rechtecke flüsterten:
Jidden! Seht ihr? Gleich da, nicht weit weg, ist das Bad. Und dort, ein bisschen weiter, ist die Gaskammer. Versteht ihr? Gleich im Bad wird jeder nackt ausgezogen und so von dort hinausgeführt. Deshalb ist das Verbergen von etwas Gold und Wertsachen vergeblich, auch wenn ihr es noch so gut in den Kleidern versteckt.
Jeder schlug vor, man solle es ihm herausgeben, und wenn man am Leben bleiben sollte, werde er es ins Lager zurückbringen. So oder so gehe man kein Risiko ein.
Weniger starke Charaktere rissen tatsächlich sofort alle Verstecke an den Ärmeln und Hosenaufschlägen auf und gaben alles heraus. Die Rechnung war eine einfache: Jene leben, sollen wenigstens sie daran Freude haben! Pfiffige Köpfe dagegen beschlossen, nicht so schnell zu kapitulieren.
So begann das große Verschlingen.
Man schlang kleinere und größere Brillanten, Ringe und kleine Goldstücke hinunter. Man überlegte sich dabei mit einer gewissen zufriedenen Beruhigung: Bald kann man sogar völlig nackt hinausgehen, ein kleines Vermögen hat man sich einverleibt. Der eigene Leib und das Gedärm werden einen nicht verraten, sondern es verdeckt und in unauffälligster Art und Weise wieder abgeben.
Aber ein Tag vergeblichen Wartens verging. Die Leute von der SS hatten Zeit. Inzwischen bekam der Magen es mit der Angst zu tun ob des versteckten Vermögens. Schon begann er unzufrieden zu grollen, bald wand er sich gar in quälenden Krämpfen und begann vor Schreck alles aus sich hinauszubefördern, was man ihm anvertraut hatte. Das Teuerste gemischt mit dem billigsten, ekligsten Mist.
Sorgfältige Hände wühlten stundenlang, rieben jedes Stück Kot durch die Finger, bis sie das Wichtigste wiederfanden, um es später erneut den Eingeweiden als Pfand anzuvertrauen.
So begann ein irrsinniges Gerangel zwischen dem Verrinnen der Zeit und dem physiologischen Drang. Man bemühte sich, die drückende innerliche Übelkeit zurückzuhalten, aber vergeblich. Später musste man ein weiteres Mal unbeirrbar suchen und zum wievielten Male dasselbe in dem müden, selbst vor Gott verborgenen, Beutel verstecken. Am dritten Tag gab es nichts mehr, mit dem es hätte herauskommen können. So schlummerte der Schatz schwer auf dem Magengrund. Die letzten inneren Säfte, in ihrer Gier, etwas zu verdauen, stürzten sich jedes Mal aufs Neue darauf wie bei einem Angriff und wurden jedes Mal mit harter Faust zurückgeschleudert. So zogen sie sich wie hungrige Wölfe in ihre eingetrockneten Adern zurück.
Es gab auch jene, die sich müde ausstreckten und auf das erlösende Verlöschen warteten. Nichts interessierte sie mehr.
Aber ein noch reger Nachbar oder Freund wusste, was in dem eingefallenen Körper schlummerte. Deshalb weckte er ihn immer wieder aus seiner Lethargie:
He du, probier nochmal, vielleicht geht es jetzt? Der Gedanke peinigte ihn, dass bei jenem etwas Wertvolles liegt, das die gestorbenen Glieder ins Feuer mitnehmen werden. Ach, wer kann denn diese Blicke vergessen, mit denen die Gesünderen auf jene schauten, die derweil einen traumversunkenen Erkundungsgang in andere Welten machten! Ach, wer kann denn begreifen, zu was Menschen getrieben wurden inmitten dieser verrückten, sinnlosen Provokation eines verborgenen Vermögens, im Angesicht eines Todes, den man vielleicht mithilfe eben dieses Vermögens vermeiden kann?
Aus so vielen Augen lese ich das wahnsinnige Erschaudern heraus. Hier sehe ich einen über den bewusstlosen Körper des Nachbarn wachen. Er vermutet, dass jener ihm wegstirbt, und er weiß vermutlich, was sich in seinen Eingeweiden tut. Er schaut mit verzweifeltem Zorn und Bedauern: He, was kann man machen? Wie geht man damit um?
Verzweiflung und Ekel packen mich vor den letzten Minuten des Lebens. Ich will wirklich nichts mehr hören und sehen. Es ist nichts geblieben auf der Welt, auf das man noch einen Blick werfen könnte. Deshalb breite ich meine Decke aus, die ich ganz gleichgültig mitgeschleppt hatte, strecke mich in einer Ecke aus und verstopfe in mir alle meine Gedankengänge. Es fühlt sich irgendwie gut an, dass man sich ganz vom Denken befreien und den kleinsten Gedanken mitten im Lauf stoppen kann. So liege ich da und werde still, wie die Erde um mich herum. Über meinem Kopf schindet der Wind den blauen Körper des Himmels. Stücke schmutzig wolkiger Watte reißen sich von allen Seiten los, nehmen sich an den Händen, verkleiden sich mit elfenlockigen Bärten und ziehen sich zur Seite weg. Der blaue Himmel funkelt mit seinen großen weißen Gestirnen und hält meinen Blick fest, der sich in der Unendlichkeit verlieren will.
Kapitel vier
I
Bei den Deutschen muss alles verkehrt herum gehen. Wie absichtlich zur Desorientierung. Just unsere Gruppe geht als erstes ins Bad. Viele von uns haben noch verschiedenes bei sich. Mein Nachbar in der Reihe, Sender, verschlingt in letzter Minute ganz geschickt, damit niemand es bemerkt, drei Goldstücke. Er ist bleich vor Schreck. Ich warne ihn: Du wirst noch ersticken! Günstigstenfalls kannst du Bauchkrämpfe bekommen und man wird dich erschießen. Er lächelt mir mit bleicher Zufriedenheit zu: Keiner hat es gesehen, für mich ist es nicht das erste Mal. Es wird wehtun. Aber für den Fall, dass ich nächste Woche noch lebe, wird es mir vieles leichter machen.
Viel Zeit zum Überlegen bleibt nicht, schnell schlingt jeder hinab, was er kann: einen Brillanten, eine Brosche oder eine kleine bis jetzt »als Notgroschen« gehütete Goldmünze. Schon werden wir in eine hallengroße Baracke geführt, in der Berge von Sachen und Schuhen liegen. Die Türen sind streng bewacht von der SS, aber drinnen stehen Juden, die speziell zum Befehlen angestellt sind:
Ausziehen!
Die Augen suchen nach einem Plätzchen, wo man die Sachen hinlegen kann. Du willst noch eine Minute mit der Illusion leben, dass die Kleider, die an deinem Körper hängen, dir gehören und du dafür sorgen musst, dass sie dir nicht abhandenkommen. Die sonderbaren Juden aber, die da verteilt an allen Seiten stehen, verstehen dich sofort. Sie wenden sich an solch suchende Augen auf Deutsch:
Nein, Freundchen! Alle Sachen gehen auf einen Haufen. Ihr werdet andere Kleidung kriegen.
Verzweifelt greifen die Finger zum Ärmelsaum. Dort sind noch tausend Złoty eingenäht, bereitgelegt für die Stunde, wenn ich die Möglichkeit zur Flucht haben würde. Eine Hand berührt mich von hinten:
Was nützt es dir, Bruder? Wo willst du es verstecken? Wenn die SS sogar mit einem Lämpchen in den nackten Hintern guckt.
Ich schäme mich vor mir selbst: Aufgehoben das Geld! Wofür? Ich hätte in der Zeit besser leben können. Ich hätte einem Freund aushelfen können. Wozu wollte ich für eine Zukunft vorsorgen, zu der mir der Mut fehlte?
Für einen kurzen Moment überkommt mich Bedauern. Ich erinnere mich, wie viele Male ein Stückchen Weißbrot oder ein Ei ins Lager geschmuggelt wurde, und ich es nicht kaufte, weil ich meinte, die letzten paar Złoty könnten mir einmal dazu dienen, einen Revolver zu kaufen. Jetzt lachen sie, vernäht im Ärmel, mich aus.
Ich muss schnell meine Kleidung ablegen. Alle sind schon fertig und ich bin einer von den letzten. Man reißt sie mir schon vom Leib. Jetzt erst fühle ich, dass ich nichts zu bedauern habe. Nein! Nicht aus Geiz habe ich oft keine Lust verspürt, etwas zu kaufen! Ich konnte mich inmitten der tiefen Trauer um die Familie, inmitten der Gefahr, die mich umgab, überhaupt nicht dazu entschließen, mich satt zu essen. Und die Freunde? Auch für sie habe ich doch etwas getan! Während ich nackt gehe, schäme ich mich dafür, dass es mir eben noch leid tat um das