Wird die britische Wirtschaft unter der Kontinentalsperre zusammenbrechen? Oder generieren die Produktivitätsgewinne des ersten Kondratieffs ein solches Maß an zusätzlichen Ressourcen, das alle Verluste mehr als ausgleicht? Das Kräftemessen gewinnt der Kondratieffaufschwung: Die britische Roheisenproduktion steigt von 60.000 Tonnen im Jahr (1780) auf bereits 244.000 Tonnen im Jahr 1806 und weiter bis auf 325.000 Tonnen im Jahr 1811. Zwei Drittel von dem, was zwischen 1760 und 1830 in Europa mehr produziert wird, stammt aus Großbritannien.
Die Engländer werden dabei höher besteuert, als es sich die Bürokraten des 18. Jahrhunderts hätten vorstellen können; die Staatsschulden verdreifachen sich während des Krieges. Aber durch den dampfvermehrten Wohlstand kann das kleinere England mit viel weniger Einwohnern den Krieg materiell überlegener führen (und 1813 die verbündeten Preußen, Österreicher und Russen mit 125.000 Gewehren und 218 Geschützen unterstützen) als das gesamte Napoleonische Reich, das den Krieg hauptsächlich dadurch bezahlt, dass es die besetzten Länder ausplündert. Dort stagniert der technische Fortschritt noch: Dass die französische Verwaltung die feudalen Grundherren durch eigenständige Bauern ersetzt, bedeutet ja noch keine landwirtschaftliche Revolution mit höheren Ernten. Die schlechten Verkehrsverbindungen auf dem europäischen Kontinent zwingen den Bauern noch immer, hauptsächlich für den lokalen Markt zu produzieren. Die Wirtschaft wartet auf die Revolution der freien Unternehmer, die 1789 in Frankreich beginnt und in Europa ein paar Jahrzehnte dauert.
Französische Revolution
»Kriege und Revolutionen fallen nicht vom Himmel und entspringen nicht der Willkür einzelner«, schreibt der Ökonom Nikolai Kondratieff 1926. Sie fänden regelmäßig gerade während des Anstiegs der langen Welle statt. Denn in dieser Zeit verschärft sich der Kampf um Rohstoffe und knapper werdende Produktionsfaktoren, das Tempo nimmt zu, die Anspannung des Wirtschaftslebens wächst – und entlädt sich schließlich in Auseinandersetzungen. Auch soziale Erschütterungen entstünden »am leichtesten gerade unter dem Druck neuer wirtschaftlicher Kräfte«.9 Kurz: Die Französische Revolution bricht 1789 nicht deswegen aus, weil die Massen Hunger haben und sich einer unfähigen Monarchie entledigen wollen – sie hatten früher noch größeren Hunger und die Monarchie war wahrscheinlich noch unfähiger. Im Gegenteil: Wenn auch ungleich verteilt, wächst die französische Wirtschaft zwischen 1783 und 1789 rapide.10
Was sich wirklich geändert hat: Zwischen König, Adel und Bischöfen auf der einen Seite und den Bauern auf der anderen Seite hat sich ein Mittelstand gebildet, der im beginnenden ersten Kondratieffaufschwung über einen wachsenden Teil des Bruttosozialproduktes bestimmt. Unternehmer haben inzwischen die Freiheit, sich Kapital aus jeder Quelle zu verschaffen, jeden zu beschäftigen, neue Produktionsmethoden auszutüfteln und anzuwenden, allen Konkurrenz zu machen und alles überall zu verkaufen. Ihre Firmen sind in der Regel klein, vermehren sich aber rasch: 1789 gibt es allein in Versailles 38 Seidenfabriken, 48 Hut-, 8 Glasfabriken, 12 Zuckerraffinerien, 10 Gerbereien.11 Die Textilindustrie, Bau und Bergbau sowie die Metallindustrie organisieren sich bereits in Großunternehmen in Form von Aktiengesellschaften. Der Bergbau gräbt seine Stollen schon 100 Meter tief unter der Erde, investiert eine Menge Kapital in Belüftung, Entwässerung und Transport. Die Firma Anzin beschäftigt während der Französischen Revolution 4000 Arbeiter, 600 Pferde und bereits 12 Dampfmaschinen. Die 300.000 Tonnen Kohle, die sie im Jahr fördert, heizen der emporschießenden Metallindustrie ein.
Dieser neue Wohlstand landet allein in den Taschen des neuen Mittelstandes, nicht oben in der Adelsschicht und erst recht nicht bei den Arbeitern. Während die Preise zwischen 1741 und 1789 um 65 Prozent steigen, steigen die Löhne nur um 22 Prozent. Wenn Arbeiter streiken, hungern die Unternehmer sie so lange aus, bis sie ihre Arbeit wieder aufnehmen – zu den Bedingungen der Unternehmer. Und wenn nicht (wie die Seidenarbeiter 1774 in Lyon), schlägt die Armee die Arbeiter in die Fabriken zurück. Ihr Hass richtet sich nun nicht mehr nur gegen ihre Arbeitgeber, sondern auch gegen die Regierung. 1786 beklagen sie, sie könnten selbst mit 18-stündiger Arbeit ihre Familien nicht ernähren. Die Massen, die 1789 ihr Leben riskieren, als sie der Staatsmacht trotzen, sind hungrig und wütend. Aber schon mit einer Brotpreissenkung wären sie zu beschwichtigen. Im Gegensatz zu den Bürgern und Unternehmern wollen sie, dass der Staat die Wirtschaft regelt, wenigstens beim Brotpreis. Damit sind sie ohne weiteres bereit, zum alten Regime zurückkehren, anstatt als Arbeiterklasse den Staat zu übernehmen. Politische Vertretung ist ihnen gleichgültig.
Anders als den Gebildeten aus den höheren Schichten. Diese überreden die besitzlose Masse, die Bastille zu stürmen (sie wird friedlich übergeben) und so den König daran zu hindern, das Militär gegen die Nationalversammlung einzusetzen. Damit gelingt es dem Mittelstand, die Unterschicht für seine Interessen einzuspannen: Ohnmächtig müssen die betuchteren Bürger im alten Königreich zusehen, wie Hof und Adel auf Kosten ihrer hart erwirtschafteten Steuern im Luxus leben, während ihnen jeder schnöselige Baron arrogant begegnet, sie politisch nichts bestimmen können und ihnen als kompetenten Bürgerlichen politische und militärische Ämter verweigert werden. Die paar schlecht bewirtschafteten Landgüter der Adeligen mit ihren ausgelaugt-ausgebeuteten Böden machen den »ersten Stand« wirtschaftlich zum zahnlosen Tiger. Er hat es versäumt, wie etwa die englischen Standesgenossen ins Unternehmertum einzutreten.
Auch sind die Zeiten um Jahrhunderte vorbei, als es für einen König die beste Wirtschaftsförderung bedeutete, Flächen an die Kirche oder Klöster zu übertragen, die daraus dann blühende Landschaften machen. 1789 sehen die Unternehmer den Klerus ein Drittel des Nationaleinkommens schlucken (wenn auch nicht nur für den Luxus der Bischöfe, sondern ebenso für soziale Aufgaben) und damit eine Theologie aufrechterhalten, die Gebildete schlicht als infantil empfinden. Die Ortspfarrer, in der Regel lauter und tugendhaft, müssen den größten Teil der Einnahmen an die adeligen Bischöfe abgeben und daher sowohl der Kirche dienen als auch ihren Lebensunterhalt selbst auf dem Feld erarbeiten. Viele von ihnen werden bei der Revolution den dritten Stand unterstützen, während die Bischöfe gegen gesellschaftliche Veränderungen sind. Es ist nicht die Schuld des Kirchenvolkes, wenn die Institution – und eng an ihr Zeugnis gekoppelt der Glaube an Gott – an Boden verliert. Die Zahl der Priester geht immer weiter zurück, alte Klöster zerfallen – zwischen 1766 und der Revolution sinkt ihre Zahl von 26.000 auf 17.000, manche nur noch mit wenigen Mönchen belebt.
Während die Dörfler gläubig sind – sie werden ihren Glauben in der Revolution gegen den aggressiven Atheismus der Pariser Zentralregierung mit Aufständen verteidigen –, glaubt in den Städten nur noch jeder zweite gebildete Mann an Gott. Die französische Kirche fordert daher 1770 eine Medienzensur und schickt dem König eine Denkschrift über »die gefährlichen Konsequenzen der Freiheit des Denkens und des Druckens«.12 Das ist keine gute Idee. Denn damit behauptet sie, sie hätte keine besseren Argumente, von dem persönlichen Beispiel der Kirchenfürsten ganz zu schweigen. Wer die Gewalt des Staates in Anspruch nimmt, um sich durchzusetzen (wie alle Staatskirchen), der verliert jede ideelle Unterstützung. Skeptizismus wird bei den Adeligen Mode. Und wenn sie sonntags in die Kirche gehen, dann nur, damit ihre Diener eine bessere Meinung von ihnen haben.
Ärgerlich daran ist für die Bauern und geschäftstüchtigen Bürger, also für den dritten Stand, dass sie alleine Steuern zahlen – Adel und Klerus sind befreit. Hinzu kommt, dass sich der König selbst das Recht verleiht, jederzeit zu erklären, der Staat sei bankrott und das vom Mittelstand geliehene Geld verloren. Nun spitzt sich Ende der 1780er Jahre die Situation zu: Der König ist bereits ausweglos verschuldet. Die Regierung will Staatsanleihen nicht mehr in fester Edelmetall-Währung, sondern nur noch in Papiergeld auslösen, dessen Wert durch Inflation aufgefressen wird. Die steuerzahlende Mittelklasse hat plötzlich Angst um ihr Erarbeitetes und ist nicht mehr bereit, sich ihren Reichtum von Arroganten und Unfähigen gefährden zu lassen.
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