Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erik Händeler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783865064356
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schreibt der russische Ökonom Nikolai Kondratieff in seinem ersten Aufsatz über lange Wellen. Zahlreiche Erfindungen seien deshalb an verschiedenen Orten gleichzeitig und unabhängig voneinander gemacht worden. Es reicht dann aber nicht, dass sie technisch machbar sind. Eine Basisinnovation bringt die Wirtschaft erst dann in Schwung, wenn sie wirtschaftlich geworden ist, weil die gesellschaftlichen Voraussetzungen stimmen wie in England Ende des 18. Jahrhunderts: Weil Schafsweiden lukrativer sind, vertreiben Gutsherren die Landbevölkerung von ihrem Ackerland – die sucht nun in den Städten Arbeit; Banken haben genug Geld, um die Dampfmaschinen der Unternehmer zu finanzieren, schließlich haben die gekaperten spanischen, dann französischen Schiffe, der Sklavenhandel und anderer Profit aus dem Welthandel inzwischen viel Kapital angehäuft. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben hohe Investitionen in Binnenkanäle den Transportaufwand pro Tonne Kohle schon etwa halbiert, zwischen Liverpool und Manchester oder Birmingham sogar um 80 Prozent verbilligt3. Binnenzölle wie in Deutschland und Frankreich sind längst abgeschafft. Während die deutschen Adeligen noch vom Rittertum träumen und auf die gewerbetreibenden »Pfeffersäcke« hinunterschauen, werden aus Britischen Lords Geschäftsleute.

      Noch 1750, bevor die Industrialisierung beginnt, ist Großbritannien irgendein Felsbrocken in der Nordsee gewesen, der etwa 1,9 Prozent der Weltindustrieproduktion herstellt – das passt im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Am Ende des ersten Kondratieffs um 1830 produziert es aber fast zehn Prozent der weltweiten Gütermenge.4 Das liegt nicht daran, dass die Löhne in England niedriger wären oder die Bank of England die Zinsen gesenkt hat oder aber der Staat so viel Geld ausgibt; auch treiben nicht etwa alle Branchen in gleicher Weise die Wirtschaft. Sondern es sind vor allem zwei Branchen, die ihre Produkte weit besser herstellen und billiger verkaufen können und Großbritannien damit wettbewerbsfähiger machen als jedes andere Land: Während die Wirtschaft im Boom nach 1790 mit etwa 2,5 Prozent im Jahr wächst – vor allem als Zulieferer für das neue technologische System und für den Konsum der zusätzlich beschäftigten Arbeiter –, wachsen die Eisen- und die Textilindustrien mit durchschnittlich 7 Prozent. Das hat nichts mit Geld zu tun, dafür aber eine ganze Menge mit Technik und den realen Vorgängen in der Fabrikhalle.

      Schon vor der Dampfmaschine treibt Wasserkraft in großem Umfang die ersten Spinnmaschinen und mechanischen Webstühle an, die ständig verbessert werden. Das erhöht die Produktivität um ein Vielfaches, reicht aber nicht. Die Nachfrage wächst schneller, als die Wirtschaft mehr produzieren kann. Es dauert bis 1785, bis die ersten Dampfmaschinen Spinnräder zum Rotieren bringen. Ein historischer Quantensprung auf ein neues Wohlstandsniveau: In den 1820ern produziert ein Textilarbeiter, der mehrere Webmaschinen bedient, 20-mal so viel wie der Heimarbeiter, hat die dampfgetriebene Spinnmaschine die 200-fache Kapazität eines Spinnrades5. Auf einen längeren Zeitraum betrachtet – zwischen 1750 und 1830 – vervielfacht sich die Produktivität allein in dieser Branche um den Faktor 300 bis 400.6

      Ein Jahr nach dem Spinnrad bewegt Dampfkraft auch den mechanischen Webstuhl. Andere Dampfmaschinen treiben Gebläse an, die Luftsauerstoff in Hochöfen pressen und mit den höheren Temperaturen aus dem Erz mehr Eisen als bisher herausschmelzen. Bergwerke können weit tiefer getrieben werden, wenn das einströmende Wasser nun per Dampfmaschine hochgepumpt wird. Eisen wird billig genug, um auf Hunderte neue Arten im Privathaushalt, in der Fabrik oder im öffentlichen Leben verwendet zu werden: Pferdebahnen mit Eisenschienen, die erste Eisenbrücke 1779 über den Fluss Severn, 1787 das erste mit Eisenplatten gebaute Schiff, Eisenträger für den Hausbau, Möbel, Maschinen, Waffen. Der Eisenausstoß verfünffacht sich zwischen 1788 und 1815, und die Preise sinken – und das sogar während der immensen Nachfrage während der heißesten Phase der Napoleonischen Kriege um 1810 – von 22 Pfund für eine Tonne Roheisen 1801 auf 13 Pfund 1815.

      Ebenso kometenhaft ist der Aufstieg der Baumwolle. 1770 macht sie erst 2,6 Prozent der britischen Industrieerzeugung aus7. Vor dem Krieg ist sie noch immer ein völlig neuer Industriezweig. Mit den wasser- und schließlich dampfgetriebenen Spinnmaschinen und Webstühlen halbieren sich die Herstellungskosten für Baumwollgarn zwischen 1780 und 1790, bis 1795 ein weiteres Mal. Der Import von Rohbaumwolle verdoppelt sich alle paar Jahre, von 16 Millionen Pfund im Jahr 1783/​87 über 29 Millionen Pfund 1787/​92 und 56 Millionen Pfund im Jahr 1800. 1801 stellen Baumwollprodukte schon 17 Prozent der britischen Industrieerzeugung und sind bei Kriegsende zum größten Exportartikel Großbritanniens geworden.

      Obwohl die große Nachfrage im Krieg insgesamt zu steigenden Preisen führt, sind die Produktivitätsfortschritte in der Textilindustrie so groß, dass die Preise für Baumwollgarn – wie beim Eisen – selbst während des Krieges weiter drastisch fallen. Ihre Produktion beansprucht immer mehr Maschinen, Dampfkraft, Kohle und Arbeit, benötigt neue Häfen, Binnenkanäle, Landstraßen. Nicht die Napoleonischen Kriege haben diesen Boom ausgelöst, aber der Druck des Krieges hat – wie später bei jedem weiteren Kondratieff – das Tempo beschleunigt, das Potenzial des neuen Strukturzyklus noch schneller zu erschließen.

      Randalierende Arbeitslose, die Maschinen in den Fabriken zerstören, sind im ersten Kondratieff eine Anfangserscheinung, denn die Nachfrage nach Arbeitskräften explodiert bald: Der erste Kondratieff benötigt Menschen, die Kohle aus dem Untergrund (in England damals relativ nah unter der Oberfläche) ans Tageslicht befördern; er braucht Menschen, die Wasserkanäle ausgraben oder in den Fabriken dampfgetriebene Webstühle mit Baumwolle bestücken, und er braucht immer mehr Mechaniker, die Maschinen warten, dazu Seeleute für den Export.

      Für diesen steilen Aufschwung sind gesellschaftliche Voraussetzungen nötig gewesen. Aber jetzt, wo der neue Strukturzyklus in Fahrt gekommen ist, mischt er die Gesellschaft auf. Anstatt auch bei der Arbeit auf dem Feld oder am Markt sich zu entspannen, zu tratschen, zu singen oder zu beten, werden Schlafen und Vergnügen nun von der Arbeit getrennt. Erholung richtet sich nach der Uhr. Die Arbeitsorganisation ist nicht mehr vom Wetter, der eigenen Kraft und Laune abhängig, sondern von Regeln, vorgegebener Disziplin und dem Zeitplan des Unternehmens. Schnell, regelmäßig, präzise und unermüdlich ist der Arbeitstakt der Maschine. Klagen über die betrunkene, faule und undisziplinierte Unterschicht, die sich nur zu störrisch dem neuen Rhythmus anpasst, sind zu dieser Zeit ein Allgemeinplatz. Schulen werden zu dem Ort, wo Pünktlichkeit gelernt wird, dazu ein durch Strafen erzwungener Gehorsam und Disziplin (kein Wunder, dass die Verhaltensmuster der Arbeitswelt ein Bild von Gott erzeugen, der durch Strafe Gehorsam erzwingt). Lokale Monopole und die letzten Binnen-Handelsschranken werden beiseite gefegt.

      Die »Industrielle Revolution« ist zwar zunächst ein langsamer Prozess, sie betrifft nur bestimmte Branchen und ereignet sich in wenigen Regionen, die per Kanal und Schiff gut erreichbar sind. Je länger, umso massiver verteilt sich aber dann die höhere Produktivität, also der zusätzlich geschaffene Wohlstand – wenn auch ungleich – auf alle: Viel mehr Handwerker können sich bessere Werkzeuge kaufen, Maschinen werden erschwinglicher, der Stadtschreiber kauft sich einen zweiten Anzug. Sogar Arbeiter leisten sich Tee mit Zucker, obwohl diese beiden Waren hoch besteuert sind. In einigen Häusern der unteren Schicht liegt plötzlich ein Teppich oder steht vielleicht sogar ein Klavier. Eine ganze Volkswirtschaft lernt jeden Tag hinzu, wie sie Eisenerz besser verhüttet, Transportkanäle baut oder Wolle noch feiner weiterverarbeitet. Das betrifft zunehmend auch die Nachbarn.

      Wer als Wirtschaftsmacht einen Kondratieffzyklus anführt, der entwickelt sich nicht separat von der Welt, sondern ist auf andere Länder angewiesen: als Exportland für seine Basistechnologie und als Zulieferer von Ressourcen. Die Briten holen damals Erz aus Schweden und Lebensmittel vom Kontinent, die Deutschen sind nach 1890 und in beiden Weltkriegen auf Lebensmittelimporte ebenso angewiesen wie auf Exportmöglichkeiten der chemischen und der Maschinenbauindustrie; die USA werden im fünften Kondratieff zum größten Schuldner der Welt, um ihre Investitionen, aber vor allem auch, um ihren Konsum zu finanzieren, und auch Japan wäre in den 1970/​80er Jahren nie so erfolgreich geworden, wenn es seine Entwicklungskosten nicht ständig von kaufenden Europäern finanziert bekommen hätte. England wird damals reich, weil es seine Produktionskapazität besser auslasten kann: Der britische Export von Baumwolle nach Indien steigt von einer Million Yards 1813 auf 51 Millionen im Jahr 1830. Die Marktmacht ist so groß, dass Länder wie Indien, China und andere spätere Dritte-Welt-Länder de-industrialisieren – um 1750 sind sie pro Kopf dagegen noch etwa so industrialisiert gewesen wie Europa.8

      Anders