Wir stehen daher als ganze Gesellschaft vor der immer drängender werdenden Aufgabe, Innenwelt-Probleme zu verringern. Doch bei dem Wort »Seele« reißt der Gesprächsfaden sofort ab: Zu viele unseriöse Seminarveranstalter bieten fragwürdige Methoden an, zu Selbstwertgefühl, Motivation und Gelassenheit zu kommen und mit Stress oder belastenden Gefühlen umzugehen – meist drehen sich diese Techniken sowieso nur um die eigene Person. Es fehlen Kriterien, »gesunde« von »ungesunden« Praktiken und Verhaltensweisen zu unterscheiden, und Personen, die damit umgehen können.
Techniken und Therapien allein können jedoch weder Sinn noch Liebe »produzieren«. Sie stoßen an ihre Grenzen. Da rücken ausgerechnet die veränderten ökonomischen Anforderungen religiöse Fragen wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten: Wie sollen wir uns in der Firma verhalten? Was ist seelische Gesundheit? Wie finde ich wieder zu meiner Ausgeglichenheit zurück (früher nannte man das »Frieden«)? Die Themen, die jetzt aufbrechen, gehören zum Erfahrungsschatz der christlichen Kirchen. Sie wurden arg gebeutelt von sozioökonomischen Paradigmen wie Materialismus und Individualismus während der vergangenen Kondratieffzyklen. Jetzt stehen die Kirchen vor einer optionsreichen Reorganisation, die sich an den Erfolgsmustern des nächsten Strukturzyklus orientiert: Die Wirtschaft benötigt nicht mehr das gehorsame und austauschbare Schäfchen der Fabrikmaschine, nicht mehr den egoistischen Selbstverwirklicher der automobilen Gesellschaft (der sich seine Glaubenswelt individuell zusammenbastelt), sondern den verantwortlichen und kooperativen Informationsarbeiter (→ Kirchenkapitel, S. 438), der ein neues gruppenübergreifendes Zusammenleben verwirklicht. Das sorgt auch innerhalb der Kirchen für Zündstoff – zwischen einer früher häufigen unkooperativen Gruppenethik und einer kooperativen Spiritualität, die der Theorie der Universalethik (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst) entspricht.
Angeschoben wird diese Entwicklung von den ökonomischen Notwendigkeiten. Wir leben in der Informationsgesellschaft nicht nur von der Arbeit anderer, sondern auch von ihren Ideen. Wir stehen jeden Tag vor so vielen Problemen, dass wir davon abhängig sind, dass andere darüber nachgedacht und sie gelöst haben. Knapp sind jetzt nicht mehr Arbeit, Maschinen oder Rohstoffe, sondern kooperative, umfassend gesunde Wissensarbeiter, ihre Fähigkeiten und Ideen, um Probleme zu angemessenen Kosten zu lösen. Vorausschauende Investoren werden daher in den Knappheitsfaktor Mensch investieren (→ S. Börsenkapitel, S. 346). Denn wir haben zuwenig Kinder und wir bilden sie nicht gut genug für den anbrechenden Strukturzyklus aus (→ Bildungskapitel, S. 362). Unsere Beziehungen in der Arbeitswelt, im Gesundheitswesen und in unseren Schulen sind nicht produktiv genug, die Familienqualität ist im Durchschnitt nicht ausreichend. Wir verschwenden zu viele Ressourcen für Destruktives16 (→ Produktivitätsreserven, S. 277). Die öffentlichen Auseinandersetzungen schlagen im Kern noch immer die Schlachten der alten Industriegesellschaft, anstatt ein Gesundheitswesen aufzubauen, in dem die Akteure das Geld der Krankenkassen mit Gesunderhaltung statt mit Krankheitsreparatur verdienen und so die produktive Lebensarbeitszeit verlängern (→ Gesundheitskapitel S. 299).
Noch scheuen sich die Politiker, diese Themen anzugehen. Das liegt nicht an ihnen, sondern an den Leuten, die sie wählen. Denn die meisten Menschen wollen keine echten Änderungen und keine Politiker, die ihnen reinen Wein einschenken. Deutschland braucht aber in der unruhigen Zeit während des Wechsels zweier Kondratieff-Strukturzyklen keine Stimmungs-Surfer, sondern Politiker mit festen Positionen; Denker, Redner und Motivierer in einer Person, ausgestattet mit einem weiten Blick, der über die eigene Lebensspanne mit ihrem Nutzenkalkül hinausreicht. Denn diese Welt wird sich noch drehen, wenn wir längst von ihrer Bühne abgetreten sind. Aber die Verantwortung dafür, dass das nächste Paradigma in der Gesellschaft umgesetzt wird und die Ressourcen zur Verfügung stehen, die neuen Bedürfnisse zu erschließen – die Verantwortung tragen wir heute. Auch wenn wir im Abschwung unter Konsumverzicht und erschwerten Bedingungen werden investieren müssen. Je mehr wir uns vor der Lösung der Probleme drücken und sie in die Zukunft schieben, um so schlimmer werden sie die Gesellschaft einholen.
Wie die langen Wellen in den vergangenen 200 Jahren alle Lebensbereiche – Wirtschaft, Kunst, Politik, Kriege und Technik – durchdrungen haben, das umfasst ein Drittel dieses Buches. Dennoch sollten Sie das nächste Kapitel nicht wie ein Geschichtsbuch lesen. Denn es beschreibt nur vordergründig die Vergangenheit: Zusammen mit der Gegenwart wird sie in der Zukunft präsent sein. Nach dem Höhepunkt der Industriegesellschaft wird die Wirtschaft entweder umkehren zu den Prinzipien des Lebens – oder sie wird stagnieren.17 Diese Zeilen zielen daher auf die heutige Wirtschaftsdebatte. Die früheren langen Auf- und Abschwünge erklären unsere Situation. Nach einigen harten Jahren Arbeit eröffnet sich die Vision von einer prosperierenden Gesellschaft. Und dafür lohnt es sich, zu kämpfen.
Kapitel 1
Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit
Was die Geschichte über ähnliche Situationen wie heute erzählt
1. Kondratieffaufschwung
Wachstumsgrenzen überwinden
Eine Gesellschaft kommt an ihre Grenzen. Wenn es eng genug wird, setzt sie alle Ressourcen dafür ein, diese Grenzen zu sprengen. Deswegen lassen sich in den Engpässen von heute die Märkte und Strukturen der Zukunft erkennen. In der Vergangenheit ist es so gewesen: Nicht die Dampfmaschine löst den ersten Kondratieff aus, sondern das, was knapp wird – der Engpass an mechanischer Energie. Die englischen Unternehmer kommen nicht mehr hinterher, ihre Bergwerke zu entwässern oder Webstühle mit Wasser- oder Tierkraft anzutreiben. Die Nachfrage der Flotte, die sich fast ein Monopol im Welthandel erkämpft hat, die Nachfrage der Armee und des Exportes sind weit größer, als die Wirtschaft Waren produzieren kann.
Bergwerke unter Wasser
Es ist daher kein Zufall, dass die englischen Unternehmer James Watt beknien, doch bitte eine Maschine zu bauen, die Hitze in Dampf und Dampf in mechanische Bewegungskraft umsetzt. John Roebuck‘s Eisenhüttenwerk bekommt zuwenig Kohle, weil die Grube wegen des Grundwassers nicht genug liefern kann – Watts Maschine soll es herauspumpen und das Bergwerk produktiver machen. Für Matthew Boultons Metallbetrieb reicht die Wasserkraft nicht aus, um einen Blasebalg anzutreiben, der Luft in den Hochofen bläst, um höhere Schmelztemperaturen zu erreichen – Boulton sucht einen besseren Antrieb. Jahrelang tüftelt James Watt herum, bis er 1769 sein erstes Patent anmeldet. Zwischen den ersten Plänen, den Rückschlägen und der praktischen Anwendung vergehen zwölf Jahre.1
»Entdeckungen