Lust aufs Alter. Peter Scheer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Scheer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783854395850
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es ohne mich schlechter sei, dass ich ihnen und ihrer Familie so wichtig wäre – sie kommen jetzt ohne mich aus. Kinder leiden, werden gesund, manche werden kränker, manche sterben – alles geht seinen normalen Gang. Freunde sagen mir, dass die Klinik ohne mich zugrunde ginge. Das erinnert mich nur an einen alten Witz aus meiner kommunistischen Studentenzeit.

      Ein Genosse des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wird nach New York geschickt, um den Kapitalismus zu beobachten. Er bleibt über die ausgemachte Zeit von vier Wochen in New York, bereist dann noch die gesamte USA und erreicht schließlich Hollywood, von wo er vom lokalen NKWD (Geheimdienst der Sowjetunion) schleunigst in ein Flugzeug in die UdSSR verfrachtet wird. Angekommen, befragen ihn die Genossen, wie es gewesen sei, was er gesehen habe. „Genossen“, hob er an und seufzte, „der Kapitalismus liegt im Sterben! Der Kapitalismus ist tot! Nur der Sozialismus lebt!“ Erfreut lehnen sich die Genossen, die wegen der langen Abwesenheit ihres ZK-Mitglieds schon skeptisch geworden waren, zurück. „Aber ich sage euch, Genossen: Was für ein Tod!“, fügt der Zurückgekommene noch hinzu. Das war sein Todesurteil.

      Wie kommen Sie darauf, dass es ohne Sie schlechter gehen würde? Wie erklären Sie sich Drohungen älterer Menschen wie: „Werdet’s schon sehen, wenn ich nicht mehr bin!“ oder „Schauts nur, wie ihr das ohne mich macht!“. Anders werden sie es machen, und Sie können – wenn sie noch die Phase vier erreichen – ihnen sogar dabei zusehen. Wie viel Leid könnte verhindert werden, wenn die Alten es nicht immer besser wüssten und wenn sie den Jungen nicht im Wege stünden. Was zählt Ihre Erfahrung? Nichts. Erfahrung, so sagt der erfreulicherweise mit mir befreundete Univ.-Prof. Dr. I. D. Mutz, einer der besten Kinderärzte Österreichs, ist etwas für Leute, die nicht lesen können. Denn die anderen haben begriffen, dass das Wissen der Menschheit aufgezeichnet wurde und so allen zur Verfügung steht, die keine Analphabeten sind. Also auch Ihnen, wenn Sie das gerade lesen. Niemand gibt irgendwas auf Ihre Erfahrung, niemand braucht sie; sie ist meist aus einer anderen Zeit. Schön, wenn sie andere Alte treffen, die sich noch an das Vierteltelefon erinnern und daran, wie es war, wenn man keinen Schilling eingesteckt hatte und zu Hause anrufen musste, weil man den Zug oder den Bus versäumt hatte. In Zeiten der Mobiltelefonie ist das so aktuell wie die Hellebarde des mittelalterlichen Ritters. Historisch lustig, für Sie eine nette Erinnerung, aber nichtsdestotrotz unwichtig. Ebenso ist es verzichtbar zu erfahren, wie Sie Ihre Kinder aufgezogen haben. Sie haben eine Wirtschaftswundergeneration aufgezogen, die eine aus den Zerstörungen des Krieges auferstehende Wirtschaft möglich gemacht hat. Alle Kräfte waren gefragt. Meine Generation war so zahlreich, weil Platz war. Heute sind zu viele da. Vieles ist ersetzbar. Die „Märkte“ sind zu einem kaum steuerbaren Individuum geworden, das selbst Finanzfachleute nur ansatzweise verstehen. Viele Tätigkeiten wurden durch Maschinen ersetzt und es gibt deshalb keinen Brockhaus, kein fünfzig Bände umfassendes Nachschlagwerk mehr, weil alle Informationen über das Internet verfügbar sind. Man braucht es schlicht nicht mehr, es ist unnötig geworden. Wie schön!

      Daher sind Ihre Erfahrungsberichte über die Schwierigkeiten der Recherche zu Ihren Zeiten so bedeutend wie alle Geschichten, die Ihre Kindheit, Jugend, Adoleszenz und Erwachsenenzeit betreffen. Ihre Kinder gehen mit den eigenen Kindern anders um. Vielleicht besser, vielleicht bereiten sie diese auf eine andere Welt vor, in der andere Anforderungen auf diese Kinder warten. Vielleicht machen sie es richtig, wenn sie die Kinder verwöhnen. Vielleicht machen sie es richtig, wenn sie ihnen beibringen, nichts zu essen, was ihnen nicht schmeckt. Vielleicht soll es so sein und sie bereiten ihre Kinder auf eine Überflussgesellschaft vor, die diese nur so und nicht anders kennen. Dass Sie noch mit dem Befehl aufgewachsen sind, alles aufzuessen, was auf den Tisch kam, war das Ergebnis eines extremen Mangels vor und im Krieg, den Ihre Eltern erlebt hatten. Deswegen sind Sie heute vielleicht übergewichtig und essen mehr, als Ihnen guttut. Vielleicht haben Sie wahrgenommen, dass es wunderbar ist, ein Auto zu haben, und dass es schön ist, überall hinfahren zu können. Ihre Kinder wissen aber, dass die fossilen Energien begrenzt sind und dass es daher – auch aus gesundheitlichen Gründen – besser ist zu gehen. Daher werden sie ihre eigenen Kinder auf Fahrrädern mitnehmen und zum Gehen anhalten und dabei verwöhnen und eventuell sogar tragen, obwohl sie den Kinderwagen dabei haben. Sie werden das Kind im Tragetuch haben und nebenher den Wagen schieben und hoffen, dass sie das Kind in den Wagen legen können, wenn es eingeschlafen ist. Vergleichen Sie das nicht mit der Art, wie Ihr Kind aufgewachsen ist. Es war eine andere Zeit und Sie können stolz sein, wenn Sie das Kind so großgezogen haben, dass es für die Zeit, in der es nun selbst Erziehungsaufgaben wahrzunehmen hat, diese auch wahrnehmen kann. Das ist alles.

      Eine kleine Geschichte dazu: Ein Vogelvater erkennt, dass er seine Kinder retten muss. Der zu einem reißenden Strom angewachsene Fluss droht das Nest hinwegzuschwemmen. Die Kleinen können in dem Sturm und über die tosenden Wogen noch nicht hinwegfliegen. Also nimmt der Vater eines nach dem anderen in den Schnabel und fliegt über den Fluss. „Wirst du mich auch einmal retten, wenn ich alt und schwach bin?“, fragt er das Erste. „Nein“, antwortet dieses. Er lässt es fallen. Ebenso ergeht es dem Zweiten. Das Dritte aber antwortet: „Nein, aber ich werde meine Kinder ebenso retten wie eben du mich!“

      Das ist die richtige Antwort. Es geht um die Sicherung des Genoms, des Überlebens der Art. Dafür sind wir ausgestattet, das ist es, was wir tun müssen, auch wenn es schon zu viele Menschen gibt.

      Wenn Sie in meinem Alter sind, haben Sie Ihre „Aufzuchtspflichten“ erfüllt. Die Kinder sind groß, haben ihr eigenes Leben und ihre eigenen Vorstellungen. Ihnen zuzusehen reicht völlig, und liebevoll da zu sein, sollten sie einen doch noch brauchen. Ihnen Geschichten zu erzählen, um ihnen zu sagen, wie sie es besser machen könnten, ist verzichtbar und macht nur böses Blut. Den Geschichten der Kinder zuzuhören hingegen wird Ihnen Freude bringen.

      Ich kann Sie beruhigen: Unwichtig zu sein ist schön. Sie sind plötzlich frei. Nichts bedrängt oder hetzt Sie mehr, Sie müssen nichts tun. Denn die Wahrheit ist: Sie werden nicht gebraucht! Und wenn doch, dann nur wie die Bauern am Markt, die den Jungen bei der Erwerbsarbeit helfen. Wenn sie aber nachlassen, geschieht etwas, was viele nicht wahrhaben wollen: Es geht auch ohne sie. Denn plötzlich hat vielleicht die Schwiegertochter Zeit oder der Enkel, und die machen es eben anders, aber genauso gut, und wenn Sie Glück haben, dürfen Sie manchmal noch ein wenig mithelfen.

      Daher zerstreiten Sie sich nicht. Vermeiden Sie es, recht haben zu wollen und Anweisungen zu geben. Sie sind unwichtig, man lässt Sie bestenfalls leben, man sagt Ihnen, dass das, was Sie wissen, obsolet geworden ist – und auch wenn Sie vielleicht mit den neuen Medien und den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft Schritt halten, wozu? Was wollen Sie damit bezwecken? Sich wichtig machen? Wichtig sein?

      Ich bin Mitglied in einem Herrenclub. Eine wunderbare Sache. Wir reden uns ein, den Armen zu helfen und die Welt zu verbessern. So weit, so gut. Wir reden uns auch ein, dass der, der mehr Fähigkeiten hat, einen größeren Beitrag für die Gemeinschaft leisten soll und dass höhere Posten eine höhere Verantwortung bedingen und nicht der Ehre wegen da sind. Und dann die traurige Realität: Die alten Männer beschimpfen sich, unterstellen einander das Schlimmste: Diebstahl, Raub, auch Nepotismus6. All das widerspricht dem Regelkanon des Herrenclubs. Es ist wie in einem Senat, der nicht von seiner Macht lassen kann. Selbst in so wunderbaren Zukunftsfilmen wie „Star Wars“ oder „Matrix“ findet sich ein Senat. Das sind immer alte Menschen, die das Sagen haben. Und das, obwohl die Schwächen des Alters nur allzu sichtbar sind. Man wird ängstlicher, obwohl man nichts mehr zu verlieren hat. Man wird dümmer, weil man vieles vergisst. Man wird zögerlicher, weil man alles besser und genauer zu überlegen meint, und doch nur langsamer denkt. Man beginnt sich selbst zu glauben, weil man sich weniger überprüft. Man wird starrer, vor allem, weil im Gehirn die Neuronen langsam abgebaut (und kaum ersetzt) werden und sich stattdessen im besten Fall weiße Substanz an diesen Stellen ausbreitet, wenn nicht Amyloid wie bei Alzheimer oder Kalk wie bei der vaskulären Demenz. Man fürchtet die Jungen, und zwar zu Recht: Sie werden diese Welt übernehmen und die Alten hinwegfegen, auf den Kehrrichthaufen der Geschichte werfen und ihnen ankreiden, dass sie viele Probleme der Welt, wie Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Kriege, Elend, Hunger und Not, nicht ausreichend bekämpft haben. Sie fürchten die Jungen so wie der Leitwolf den jungen Wolf fürchtet, da dieser – schon im Interesse des Genoms und der Auswahl des Besten – ihn verdrängen und ungerührt zulassen wird, dass sein Vater oder Onkel allein verhungert.