Der akademische »Widerstand« gegen die Graphologie findet daher, bedenkt man die Schärfe, die er in der Vergangenheit gezeigt hat, seine Haupterklärung wahrscheinlich in weniger rationalen Motiven als den von den Gegnern der Methode ausdrücklich vorgebrachten. Nach Ansicht des Verfassers liegt eines ihrer offensichtlichsten in dem vergleichsweisen Mangel des durchschnittlichen Wissenschaftlers an spezifischer Fähigkeit, Eigenschaften von Mustern adäquat wahrzunehmen, die in all ihrer Verschiedenheit zu erkennen der durchschnittliche Kunststudent etwa keine Schwierigkeiten hat; in der Rationalisierung dieser Unfähigkeit ist der Wissenschaftler leichterdings versucht, die »Vagheit« seiner eigenen Erfahrung solcher Qualitäten dem Erfahrungsgegenstand zuzuschreiben. Ein zweites zu vermutendes Motiv aber, das hinter dem »Widerstand« gegen die Graphologie am Werk ist, und eines, das auf lange Sicht ernsthafter sein könnte, ist die in unserer Zeit weitverbreitete Neigung, psychologische Methoden in einem Ausmaß zu popularisieren und zu »simplifizieren«, das mit ihrer Natur unvereinbar ist und das kein Chemiker oder Physiker in seinem Feld tolerieren würde. Als Neigung auf seiten der Graphologen und Pseudo-Graphologen selbst hat dies zu der Unzahl unverantwortbarer Annäherungen an das Thema beigetragen, die seinem Ruf so viel Schaden zugefügt haben; die befremdliche Tatsache aber bleibt, daß der »Objektivist«, sobald er dieses Thema mit scheinbar gutem Willen untersucht, für gewöhnlich dieselbe Tendenz dadurch nährt, daß er die Graphologie seiner eigenen Art und seinem eigenen Grad an psychologischem Verständnis anzupassen versucht. Indes ist diese Haltung nicht notwendig auf die »objektivistische« Schule beschränkt. Das Verlangen nach Patentlösungen, das sich bereits in jüngeren Formen der Rorschachlehre und verwandten Lehrgebäuden bemerkbar macht, steht notwendig im Widerspruch zu dem komplizierten Denkprozeß, der in der systematischen Handschriftenanalyse erfordert ist. Gewiß, dank der leichten Beschaffbarkeit des Forschungsmaterials ist der beachtliche ökonomische Vorteil der Graphologie gegenüber den meisten gebräuchlichen psychodiagnostischen Methoden offensichtlich; während es aber im ganzen weit weniger Zeit in Anspruch nimmt, eine graphologische Analyse durchzuführen, als einen Rorschachtest, erfordert sie einen weit höheren Aufwand im Sinne wahrnehmungsmäßiger und intellektueller Konzentration. Das bringt sie in Konflikt mit einer Geisteshaltung, die im Sinne der alten Graphologie der »Zeichen« und der summativen Verfahren gegenwärtiger psychologischer Tests »Listen diagnostischer Indikatoren« wünscht, in denen jeder graphische Zug seine vorgeblich festbestimmte Bedeutung hat, in denen die Namen von Zügen einfach abgehakt werden können und intellektuelle Anstrengung soweit wie möglich vermieden wird. Wenn der Graphologe sich dieser – mit den Prinzipien seiner Methode wie auch dem Wesen der Persönlichkeit selbst unvereinbaren – Geisteshaltung hingibt, ist er verloren; er hat dem »Objektivisten« erlaubt, die Graphologie zu entstellen und in einen Popanz zu verwandeln, und er braucht sich nicht zu wundern, wenn dieser Popanz dann in Versuchen wie dem von Hull und Montgomery nur allzu leicht zu Fall gebracht werden kann.
Wie können graphologische Befunde angesichts dieser Situation schlüssig objektiviert werden? Wir haben gesehen, daß keine Validierung aussagekräftig sein kann, wenn sie nicht auf der Grundlage vollständiger Persönlichkeitsbeschreibungen oder einzelner aus solchen Beschreibungen abgeleiteter Feststellungen unternommen wurde, die Frage des »validen Kriteriums« bleibt aber noch zu beantworten. Nach Ansicht des Verfassers und gemäß seiner vorstehenden Argumentation insgesamt besteht das einzige mögliche Kriterium von unstrittiger Relevanz für die Objektivierung von Persönlichkeitsbeschreibungen darin, daß die Identität des beschriebenen Subjekts durch Personen, die es gut kennen, wiedererkannt werden kann. Die einzig solide Lösung scheinen somit angepaßte Versuche zu sein, in denen eine Gruppe von Persönlichkeitsbeschreibungen, die auf der Basis »blinder« graphologischer Analysen gewonnen wurden, der Gruppe der beschriebenen Subjekte gegenübergestellt wird und in denen die »Richter« – die aufs beste mit der Persönlichkeit eines jeden von ihnen bekannt sein müssen – die Identität des Subjekts jeder dieser Beschreibungen zu bestimmen haben. Solche angepaßten Versuche können und sollten genau kontrolliert werden. Sie können und sollten der schärfsten statistischen Analyse unterworfen werden. Ja, um auch die Frage der Zuverlässigkeit der Methode als solcher – d. h. unabhängig vom individuellen graphologisch Arbeitenden – zu beantworten, müßten solche Versuche eine größere Zahl genauestens in der graphologischen Methode unterwiesener Psychologen einbeziehen. Gegenwärtig scheint in diesem Land keine solche Gruppe zu existieren. Daß der Tag nicht fern sein mag, an dem sie nicht nur existiert, sondern ihre Fähigkeiten sich letzten Endes – in der Erziehung, in der Sozialarbeit, in der Berufsberatung und vor allem in der Psychiatrie und klinischen Psychologie – jenseits allen Zweifels bewährt haben, ist die Hoffnung und vertrauensvolle Erwartung des Verfassers.
Grundbegriffe
Der motorische Aspekt des Ganzen:
Kontraktion und Entspannung
Die Schreibbewegung ist kontinuierlich nur in der Abhängigkeit jeder ihrer Bestandteile von einem übergeordneten Zweck; sowohl in der Bewegungsrichtung als auch in der Geschwindigkeit, in der sie abläuft, ist sie diskontinuierlich. Hinsichtlich der ersteren leuchtet das ein aufgrund der Notwendigkeit, die richtungsmäßig komplexen Buchstabenformen zu erzeugen; hinsichtlich letzterer aufgrund der Notwendigkeit, die Wörter voneinander zu trennen. Beide Notwendigkeiten beeinflussen die kontinuierliche Entbindung motorischer Energie nicht nur über ihre eigenen direkten Erfordernisse an Diskontinuität, sondern auch über die Unfähigkeit des Organismus, diese Erfordernisse in genau dem von ihnen implizierten Maße zu erfüllen: Die richtungsmäßige Komplexität von Buchstaben macht es nicht nur schwieriger als bei einer einfachen horizontalen Bewegung, eine übergeordnete Richtungskontinuität aufrechtzuerhalten, sondern betrifft ebenso zentrifugale wie zentripetale Bewegungsanteile, die bei der Ausführung dazu tendieren, ihre von den schulischen Ausgangsschriften beabsichtigte richtungsmäßige Komplexität noch zu übertreffen; die dynamische Komplexität der Worttrennung umfaßt nicht nur die Notwendigkeit, zu unterbrechen und neu anzufangen, sondern auch die, zu verlangsamen und wieder zu beschleunigen; im Endeffekt erhöht die richtungsmäßige Diskontinuität tendenziell die dynamische, und zwar aus genau dem gleichen Grund, nämlich der Involvierung von zentrifugalen und zentripetalen Anteilen und der Notwendigkeit, sie zu kontrollieren. Als diskontinuierliche ist die Schreibtätigkeit durch den Wechsel von Kontraktion und Entspannung der beteiligten Fingermuskeln differenziert, ein Wechsel, den die unterschiedlichen Erfordernisse von Richtung und Geschwindigkeit notwendig machen.
Die erste und allgemeinste Aufgliederung aller Bestandteile der graphischen Bewegung unterteilt sie somit in Bewegungen der Kontraktion und solche der Entspannung, und mit Ausnahme einzig der Ebene der Formqualität gibt es kein graphisches Merkmal innerhalb irgendeiner Bewertungsdimension, das nicht einer der beiden Gruppen zugeordnet werden kann. Da die Gesamtbewegungsrichtung in allen abendländischen Handschriftensystemen eine horizontale ist, kann man von dem dafür geltenden Differenzierungsprinzip erwarten, daß es in vertikaler Richtung wirkt und sich am eindeutigsten in jenen Bewegungen manifestiert, die das