Graphologie. Schriften 1. Ulrich Sonnemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Sonnemann
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783866743540
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verloren gegangen sein kann. Das hierbei angegangene Phänomen ist ersichtlicherweise nicht der eine oder andere »Zug«, sondern Persönlichkeit als eine funktionale Einheit; also kann nur die Persönlichkeit als funktionale Einheit das eigentliche objektive Kriterium sein, an dem graphologische Befunde zu messen sind. Das schließt nicht die graphologische Untersuchung der Persönlichkeit hinsichtlich spezifischer Linien des sozialen Funktionierens aus (die oben zitierten europäischen Versuche konzentrierten sich alle auf Untersuchungen dieses Typus’), wohl aber jegliches direkte und isolierte graphologische Urteil zu einzelnen »Zügen«: Urteile dieser Art müssen aus der ganzen Persönlichkeitsstruktur erschlossen und dürfen nicht auf isolierten und außerhalb ihres gegebenen Gefüges interpretierten Eigenschaften der Handschrift begründet werden.

      Daraus folgt, daß Quantifizierungsverfahren in der Graphologie (und möglicherweise nicht nur dort), um ihren Kern nicht völlig zu verfehlen, eher auf der Ebene umfassender Persönlichkeitsbewertungen (oder spezifischer daraus abgeleiteter Feststellungen) als auf der irgendwelcher spezifischer interpretativer Annahmen durchgeführt werden sollten: Die letzteren stellen, in ihrer individuellen Anwendung, stets nur Versuche dar, stets implizieren sie einen bestimmten Spielraum an charakterologischer Bedeutung. Die Extrempositionen innerhalb ihres Spielraums können einander hinsichtlich der sozialen und moralischen Werte diametral entgegengesetzt sein, und die Fixierung bestimmter, durch eine Bewertungsdimension eindringlich nahegelegter Züge der Persönlichkeit wird immer dadurch erreicht, daß man nichts weniger als die gesamte Konfiguration von Indikatoren inner- und außerhalb dieser besonderen Dimension in Betracht zieht. Alle anderen Vorgehensweisen sind notwendig atomistisch und nicht objektiv, insofern sie dogmatisch dazu neigen, die Bedingungen zu diktieren, unter denen ihre Gegenstände sich wissenschaftlicher Erkenntnis erschließen sollen, anstatt sie durch die Natur der zu untersuchenden Phänomene bestimmen zu lassen. In einem funktionalen Ganzen haben die Komponenten keine Signifikanz, wenn sie aus ihrer Position innerhalb dieses Funktionssystems herausgelöst werden. Wenn man eine Melodie in eine andere Tonart transponiert, bewahrt keine einzige Note ihre Identität; die Melodie aber sehr wohl. Ebenso können für ein und dasselbe Individuum in verschiedenen Lebenssituationen und in verschiedenen Perspektiven externer Beobachtung völlig unterschiedliche Konzeptionen von »Zügen« hinsichtlich des sozialen Verhaltens zutreffen, auch wenn ihr möglicher Umfang in signifikantem Maße durch die Persönlichkeitsstruktur selbst begrenzt ist; um seine Identität zu erkennen, erfordert es das Bild der gesamten Struktur.

      Das heißt, daß die Quantifizierung einzelner graphischer Züge hier und da für Verfahrenszwecke von Bedeutung sein kann, um den Untersuchenden bei der Orientierung auf sein Beobachtungsfeld zu unterstützen, daß sie aber als Grundlage für direkte psychologische Interpretation und darauf gestützte vergleichende statistische Studien völlig zufällig wäre. Das wird durch die innere Situation der grapho-analytischen Arbeit selbst bestätigt, und ein Beispiel mag das illustrieren. »Druck« in der Handschrift wird allgemein verstanden als Anzeichen für konzentrierte Arbeitsenergie und zielgerichtetes Streben, die ungefähr im selben Grad wie der Drucks vorhanden seien. Die atomistische Methode zur Überprüfung dieser Annahme würde eine Skala zur quantitativen Messung des Drucks aufstellen, sie auf Handschriftenproben anwenden, versuchsweise die Stärke des Drucks als Stärke an äußerlich verfügbarer Energie interpretieren, die Interpretation an sozialen und klinischen Belegen überprüfen und sich beträchtlichen Überraschungen aussetzen: Jenseits eines bestimmten Punkts an Intensität kehrt sich die Richtung der psychologischen Bedeutung von »Druck« nämlich um und deutet im Maße seiner weiteren Verstärkung auf das Vorliegen eher hemmender innerer als herausfordernder äußerer Hindernisse hin, die durch dieses Zurschaustellen von Kraft überwunden werden sollen. Der exakte Ort des Umkehrungspunktes auf der Intensitätsskala ist wiederum variabel und hängt von der individuellen Konfiguration ab. Komplizierter noch wird die Situation durch die Tatsache, daß der in der Stichprobe vorfindliche Druck unter Umständen in Bewegungen verschoben werden kann, die normalerweise nach motorischer Entspannung verlangen, und daß andere Eigenschaften die interpretative Basis dafür auf virtuell unendlich viele Arten modifizieren können, die sich einer geordneten Quantifizierung vollständig entziehen und, um verstanden werden zu können, auf das ihnen gemeinsam zugrundeliegende Prinzip der Systemtätigkeit zurückbezogen werden müssen. Denn wenn es auch selbstverständlich möglich ist, die grundsätzliche Bedeutung einer graphischen Eigenschaft wie etwa eines bestimmten Grads an Druck theoretisch unabhängig von Indikatoren, die sie verändern oder spezifizieren, zu beschreiben, wäre der daraus resultierende Begriff viel zu allgemein und charakterologisch umfassend, um mit irgendwelchen positiven und differenziellen, am Verhalten beobachtbaren Persönlichkeitseigenschaften zu korrespondieren, und würde sich deshalb nicht für derartige Beobachtungen einschließende Experimente zum Nachweis ihrer Validität eignen. Außer der Notwendigkeit, Versuche dieser Art nur auf der Grundlage umfassender Persönlichkeitsbilder durchzuführen, folgt daraus, daß graphologische Arbeit, um systematisch durchgeführt werden zu können, ihre Beobachtungen durch qualitative Klassifizierung ausdruckshafter Eigentümlichkeiten organisieren muß und daß weder die Übung im Sehen solcher Eigentümlichkeiten noch ein kritisches Ausbalancieren ihrer interpretativen Werte durch ein mechanisches Ausmessen einzelner quantitativer Aspekte ersetzt werden kann.

      Die Objektivität jeglicher Untersuchungsmethode hängt letzten Endes von der Natur ihres Gegenstands ab. Persönlichkeit ist nicht nur keine Summe quantifizierbarer Verhaltenszüge; sie unterscheidet sich überdies von den Gegenständen der Naturwissenschaften durch ihre weit engere Verwobenheit in die eigene Existenz des Forschers, weshalb sie von ihm grundsätzlich anders erfahren wird, als er irgendwelche naturwissenschaftlichen Objekte wahrnimmt. Da unausweichlich bereits auf der Wahrnehmungsebene Werturteile in die Erkenntnis seiner Gegenstandssphäre einfließen, ist der Begriff des Gegenstands, Persönlichkeit, selbst im Verhältnis zu jeglichen in dieser Hinsicht erdachten Testmethoden weit weniger fest etabliert als der der physischen Kräfte oder chemischen Elemente im Verhältnis zu den zu ihrer Messung erdachten Testmethoden. Ein von menschlichen Wertvorstellungen – die sich von Interpretierendem zu Interpretierendem deutlich unterscheiden können – unabhängiger Begriff von Persönlichkeit existiert nicht. Viele Unterschiede zwischen Persönlichkeitsbildern, zu denen unterschiedliche Gutachter mit auf ein und denselben Fall angewandten psychologischen Methoden gelangen, sind weder einer Unangemessenheit und Ungenauigkeit der verwendeten Methoden noch Unterschieden in ihrer Anwendung geschuldet, sondern verschiedenen Wertvorstellungen, die Unterschiede im Fokus der Interpretation verursachen.

      Auf der Quantifizierung einzelner graphischer Züge zu beharren beseitigte nicht diese Schwierigkeit, sondern vielmehr den jeweiligen Kontext, in dem allein diese Züge irgendeine Bedeutung hätten. Als ein aus der Sicht angeblicher wissenschaftlicher Objektivität erforderliches und auf vergleichende Studien solcher »quantifizierter« Züge abzielendes Validationsverfahren würde dies die Behauptung implizieren, daß diejenigen Phänomene, die Individualitäten konstituieren, im strengen Sinne nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein können. Das wäre eher eine unkritische Ausdehnung der metaphysischen Position des Positivismus auf Inhalte, die geeignet sind, den Schatten eines Zweifels auf diese Position zu werfen, als ein Argument, das aus Erfahrung spricht. Nicht nur die personalistischen Psychologien, sondern jede Forschungsrichtung, die sich mit den morphologischen, ästhetischen, »topographischen« und historischen Dimensionen von Realität auseinandersetzt und mit Hilfe von Begriffen vorgeht, die der Natur der in diesen Dimensionen zu beobachtenden – stets »einzigartigen« – Phänomene angemessen sind, würden dadurch für ungültig erklärt. Wenn wir zu analysieren versuchen, was in unserer direkten Erfahrung unsere Vorstellung einer uns bekannten »Persönlichkeit« ausmacht, finden wir das Prinzip, das alle darin eingehenden Elemente verbindet, in einer gewissen qualitativ einheitlichen, ganz eigenen Art, die ausschließlich dieser Person zugehört und die eher eine »Wie«- als eine »Was«-Frage beantwortet. Der Inhalt selbst, Persönlichkeit, kann dann, als psychologische und nicht als soziale Kategorie, nur auf der Grundlage dieser Qualität der »individuellen Gestik« bestimmt werden, die genau das ist, was die Analyse der Ausdrucksbewegungen sich zu untersuchen vornimmt.

      Die Probleme der Validierung von Befunden, die in Form von Gesamt-Persönlichkeitsbildern oder spezifischen Schlußfolgerungen aus ihnen angeordnet sind, sind deshalb in der Graphologie dieselben wie in irgendwelchen anderen der zur Zeit so einflußreichen projektiven