Einiges kommt da zusammen bei dieser Blindheit seitens der amerikanischen Psychologen. Unberücksichtigt blieb bereits, daß, mit Sonnemann zu sprechen, die Aufmerksamkeit am Offensichtlichen immer schon vorbeischweift: so selbstverständlich, wie wir den Boden nehmen, auf dem wir stehen, interessiert uns an den Schriftzügen zuerst und zuletzt der mitgeteilte Inhalt, kaum aber die Person, die sich in ihnen offenbart. Unglücklicherweise waren die bei dem Versuch einer wissenschaftlichen Erforschung der Handschrift angewandten Methoden alles andere als wissenschaftlich. Immer – Sonnemann wurde nicht müde darauf hinzuweisen – müssen Untersuchung und Gegenstand aufeinander bezogen sein, nie darf sich die Untersuchung, wie in der Handschriftenforschung geschehen, von der in diesem Sinne wissenschaftlichen Methode entfernen. Die Handschrift aber, die ihre Bedeutung dann am besten zu erkennen gibt, wenn sie als Ganzes in den Blick genommen wird, zerfiel in ihre Bestandteile; soll heißen: die »Zeichen«-Methode wurde über die Handschriftenanalyse verhängt – man nahm t-Striche, i-Punkte, Neigung, Größe und derlei mehr unter die Lupe, ließ den Zusammenhang unter den Tisch fallen und die Zeichen damit bedeutungslos werden. So wenig ein »Aussenden und Empfangen« von Gedanken und Bildern in künstlich erzeugter Laborsituation mit spontaner telepathischer Erfahrung zu vergleichen ist, so untauglich ist der Versuch, bestimmte Zeichen in der Handschrift zu Persönlichkeitszügen in Beziehung zu setzen, gemessen am Vertiefen in die Person als ganzer, wie sie eine jede Handschriftenprobe uns vor Augen stellt. Wir sollten, Sonnemann folgend, »die Phänomene selber zum Sprechen bringen«, statt sie in bedeutungsleere Fragmente zu zersplittern. Im Namen von Rationalität und Wissenschaftlichkeit rückte die Psychologie in den Vereinigten Staaten irrationalerweise von menschlichen Erfahrungen ab, bloß weil sie ihr unbegreiflich waren.
Leider konnte Ulrich Sonnemann seine schier unheimliche Fähigkeit niemandem vererben, was womöglich auch der Schreibweise seines Buches geschuldet ist, gewiß aber und zuerst unserem Mangel an der in seiner Person lebendigen bemerkenswerten Einfühlsamkeit in die Nuancen der Schreibspur.
Miriam Ehrenberg New York, im Februar 2004
Aus dem Englischen von Paul Fiebig
Erste Abteilung: Graphologie
Handschriftenanalyse
im Dienste der Psychodiagnostik
Eine Darstellung der allgemeinen und klinischen Graphologie
Aus dem Englischen von Claus-Volker Klenke
I. Einleitung
Wesen und Absicht der Graphologie.
Geschichte und Grundannahmen
Daß etwas so »Persönliches« wie die Handschrift uns etwas über den Charakter, das Temperament und die geistige Verfassung einer Person sagen kann, ist eine simple und beinahe selbstverständliche Erwartung. Schon lange, bevor eine irgend systematische Erforschung der Handschriftenpsychologie aufgenommen wurde, war sensiblen Beobachtern des menschlichen Verhaltens, unabhängig voneinander, aufgefallen, daß die Handschrift verschiedener Personen dauerhaft und unausweichlich ein Kennzeichen von deren Individualität darstellt. Das wirft eine interessante Frage auf. Gewiß verzeichnen wir gegenwärtig in diesem Lande unter professionellen Psychologen ein wiedererwachendes Interesse an dem, was sich psychologisch durch die Handschrift mitteilt, warum aber erhielt sie, zumindest in Amerika (die Entwicklung in Europa nahm einen ganz anderen Verlauf), nicht schon lange vor unserer Zeit den ihr angemessenen Platz in der Persönlichkeitsforschung? Warum blieb zu einer Zeit, als in Europa für Psychologiestudenten das Studium von Klages’ grundlegenden Büchern zu diesem Gegenstand verpflichtend geworden war, die Handschriftenanalyse hierzulande fast ausschließlich den »Quacksalbern« überlassen – um von diesen dann je nach Absicht und Verständnis zurechtgemodelt zu werden? Lassen Sie uns diese Fragen an geeigneter Stelle wieder aufnehmen, nachdem wir zuvor erkundet haben, was Handschriftenanalyse ist und will und welche Vor- und Grundannahmen ihrem so kniffelig verästelten Apparat zugrunde liegen.
Aus dem Blickwinkel der psychologischen Forschung bietet die Handschrift sich für zwei verschiedene, scharf zu trennende Ziele an. Das eine ist ihre Verwendung zu psychodiagnostischen Zwecken, das andere die zu Zwecken der Identifikation. Auch wenn es sich vom Material her in einigen Untersuchungsbereichen mit unserem Gegenstand überschneidet, fällt das letztgenannte Ziel nicht in den Rahmen dieser Studie, die sich auf die Graphologie im eigentlichen Sinne, nämlich die psychologische Handschriftenanalyse zum Zwecke der Erforschung und Beschreibung der Persönlichkeit beschränkt.
Gegenwärtig kann man bei den Graphologen, je nach ihren Denk- und Herangehensweisen bei der Verfolgung ihrer dergestalt definierten Zielsetzung, drei Gruppen unterscheiden.
Die eine unternimmt einen bloß intuitiven und impressionistischen Versuch, angesichts einer vorliegenden Handschriftenprobe und mittels einer sich auf die visuelle Erfahrung ihrer Ausdrucksqualitäten insgesamt stützenden Einfühlung sich selbst mit deren Urheber zu identifizieren und dadurch Einsicht in dessen Charakter zu gewinnen. Zwar erweist sich die in solch einem Verfahren implizierte Haltung einer wachsamen und doch unvoreingenommenen Aufmerksamkeit für Gesamteigenschaften des visuellen Musters als unabdingbar für einen graphologischen Erfolg mit gleich welcher Methode, doch ist der rein intuitive Zugang, da er keinerlei systematische Kontrollen einschließt, subjektivistisch bis hin zu möglicher Willkür; zumindest also ist er unzuverlässig.
Ein zweiter, in jüngerer Zeit aufgekommener Ansatz stützt sich in starkem Maße auf die statistische Methode, nicht als ein Hilfsmittel für die endgültige Validierung der graphologischen Persönlichkeitsbilder, sondern als einen am Aufbau des grapho-analytischen Systems selbst mitwirkenden Faktor. Das Konzept der Korrelationen zwischen bestimmten psychologischen Trends und Zügen der Handschrift wird, zwecks Überprüfung, einer statistischen Analyse des gehäuften Auftretens quantitativer Verstärkungen und Verminderungen solcher Züge unterzogen, und die Ergebnisse vergleicht man dann mit auf die fragliche Gruppe zutreffenden sozialen, psychologischen und klinischen Indikatoren. Dieser Ansatz wurde bisher selten praktisch angewandt. Aus Gründen, die im methodologischen Teil dieser Studie diskutiert werden, dürfte er kaum adäquater sein als der erstgenannte.
Die dritte Methode – die, die wir hier entwickeln werden – ist die Frucht vieler Jahrzehnte systematischer Untersuchung der Handschriftenanalyse, die in Europa von Ludwig Klages und einigen seiner Schüler sowie unmittelbareren Vorläufern betrieben wurde. Diese vom graphologischen Dilettantismus vor ihrer Zeit so klar unterschiedene Untersuchung gründete auf einer Erforschung der Ausdrucksbewegungen im allgemeinen. Was sind Ausdrucksbewegungen? Um die Leistungen von Klages zu erfassen, müssen wir einen ersten Blick auf diesen äußerst grundlegenden und entscheidenden Begriff werfen.
In einem weiter gefaßten Sinne können alle von einem