Während sich in beiden Fällen in extremem Maße die Vorherrschaft einer Art von Zielgerichtetheit findet, sind die meisten alltäglichen Handlungen hinsichtlich der zweck- und ausdruckshaften Ziele, denen sie dienen, weit ausgeglichener. Dazu stimmt, daß einer der größten praktischen Vorteile, den die graphische Bewegung der psychologischen Analyse bietet, in ihrer kombinierten und ziemlich gleichen Empfänglichkeit für Ziele beider allgemeinen Kategorien besteht. Über ihre relativ enge Analogie mit der vorherrschenden Struktur der meisten Lebenssituationen hinaus scheint dies auch eine reichliche und wohlgeordnete Versorgung mit psychologischen Indikatoren zu erleichtern. Im Unterschied zu anderen Ausdrucksbewegungen bietet die Handschrift dem Beobachter eine fixierte Aufzeichnung, eine praktische und leicht verfügbare Spur solcher Bewegungen, während z. B. eine Untersuchung des Ganges, um systematisch durchgeführt werden zu können, ziemlich aufwendige Filmaufzeichnungen erforderte.
Wie objektiv ist die Graphologie?
Jede Wissenschaft, ohne Ansehen ihres jeweiligen Gegenstandes, hat sich ursprünglich auf der Grundlage einer Systematisierung alltäglichen empirischen Wissens entwickelt. Die graphologische Methode, die auf einem besonderen Gebiet die gewohnte menschliche Tätigkeit des Erkennens, Klassifizierens und Interpretierens von Verhalten betreibt, bildet von dieser Regel keine Ausnahme. Der graphologische Laie wird kaum das Gefühl haben, sich eine Blöße zu geben, wenn er eine extrem unordentliche Handschrift unordentlich nennt oder eine extrem regelmäßige ordentlich, aber er wird dazu neigen, alle weiterreichenden Feststellungen spekulativ zu nennen, und so legt er kritiklos die Grenzen seiner eigenen Sensibilität für ausdrucksmäßige Eigenschaften als Scheidelinie zwischen Objektivität und Subjektivität fest.
Nun erklärt diese Haltung zwar die Häufigkeit, mit der die Graphologie des »Subjektivismus« bezichtigt wurde, sie beantwortet aber nicht die Frage, wie »gültig« die graphologische Methode tatsächlich ist; und oft wurde der Vorwurf laut, daß die Graphologen sich der Aufgabe der Objektivierung einfach nicht in ausreichendem Maße stellen. Angesichts dieser Kritik mag es nützlich sein, auf die schon geleistete Validierungsarbeit ein- und der Frage nachzugehen, wie Versuchsanordnungen für die weitere Validierung und Gruppenuntersuchungen aufgebaut sein sollten, um aussagekräftig zu sein. Hierzulande wird von Gegnern der Methode immer wieder auf den 1919 von Clark L. Hull und Robert B. Montgomery durchgeführten Versuch verwiesen, der in einem Desaster endete (wenn nicht für die Graphologie, so doch für das, was immer in diesem Versuch auf die Probe gestellt wurde). Er war indes unwissenschaftlich gleichermaßen aus Sicht der Graphologie wie der Experimentaltheorie. Die von Hull und Montgomery getestete Methode befaßte sich mit den Auf- und Abwärtsorientierungen der Wörter, den Weiten der kleinen ms und ns und den Längen von t-Balken, die alle als potentiell korrespondierend mit bestimmten Charakterzügen und deren individuellen Variationen eingeschätzt wurden, das aber war noch Michons Graphologie der Zeichen, die zu dieser Zeit, achtzehn Jahre nach der Veröffentlichung von Meyers Arbeit und, je nachdem, neun bzw. zwei nach Klages’ ersten Veröffentlichungen, längst überholt war. Die Versuchsanordnung bestand, objektiv nicht weniger fragwürdig, aus einer Collegeverbindung, einer engverstrickten Gemeinschaft von Studenten, zum größten Teil homogen nach Anschauungen, Herkunft und Wertvorstellungen, alle ungeübt in der Rolle, die sie in diesem Versuch zu spielen hatten und die darin bestand, gegenseitig ihre Charaktere hinsichtlich einiger jener Züge zu bewerten, von denen angenommen wurde, daß sie mit den von Hull und Montgomery ausgewählten und quantitativ gemessenen graphischen Kennzeichen (und zwar jeweils ein Zug mit einer Eigenheit der Handschrift) korrespondierten. Graphologischer- wie experimentellerseits inadäquat, konnte von dem Unternehmen nicht erwartet werden, irgend bedeutsamere Ergebnisse zu zeitigen, als die Methode es war, mit der es sich seinen Gegenständen näherte.
In Europa wurden häufiger Einzelversuche in blinder graphologischer Diagnose durchgeführt, bei denen erfahrene Anwender aus den Schulen von Klages, Pulver und Saudek getestet wurden. Die Ergebnisse entsprachen in der überwiegenden Zahl der Fälle – und vervollständigten sie in vielen – den verfügbaren sozialen und klinischen Belegen in so hohem Maße, daß die ursprüngliche Skepsis der Forscher im Hinblick zumindest auf die Validität, wenn nicht sogar die Zuverlässigkeit der Methode stark gemindert wurde; man stellte fest, daß sich bei Versuchen mit handschriftlichen Kopien standardisierter Texte, zu denen allein Alter und Geschlecht der Schreibenden angegeben wurde, auf der Basis reinen Zufalls eine unbegrenzte Anzahl möglicher Persönlichkeitsbeschreibungen ergeben konnte; und daß folglich hoch spezifische Persönlichkeitsbeschreibungen, die, gerade in ihrer Spezifizierung, mit dem sozialen und klinischen Bild übereinstimmten und zu denen verschiedene Anwender mit dem gleichen methodischen Ansatz unabhängig voneinander gelangt waren, keinen Zweifel an der Validität dieser Methode lassen konnten. Allerdings stellte man, als die Methode sich weiterentwickelte, auch die Notwendigkeit fest, einen angemessenen Grad an Zuverlässigkeit zu gewährleisten, und so kam es zu den vielen Objektivierungsexperimenten, die in Deutschland zum größten Teil von den Instituten für Industrielle Psychotechnik durchgeführt und hierzulande von Gordon W. Allport und Philip E. Vernon in ihrem Buch über Ausdrucksbewegungen dargestellt wurden. Das experimentelle Setting lieferten hier in den meisten Fällen die Arbeitsbewertungen einzelner Angestellter gemäß der Beurteilung ihrer Arbeitgeber auf der einen Seite und graphologische Bewertungen ihrer entsprechenden Eigenschaften (wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit) auf der anderen. Die durch die Verwendung von Punkteskalen erreichten Korrelationen lagen alle weit oberhalb bloßen Zufalls, und zwar am auffälligsten bei denjenigen Versuchen, die graphologische Bewertungen von Robert Saudek, Richard Couvé, Gertrud von Kügelgen und besonders Kurt Seesemann einbezogen, dessen graphologische Angestelltenbewertungen eine dreiundneunzigprozentige Übereinstimmung mit den Beurteilungen der Arbeitgeber zeigten.
Erfolgreiche Objektivierungsexperimente hinsichtlich der Graphologie waren aber keineswegs auf Europa beschränkt. Erwähnt werden sollte hier Ruth L. Munroes ›Three Diagnostic Methods Applied to Sally‹ und ›A Comparison of Three Projective Methods‹ (letzteres gemeinsam mit Thea Stein-Lewinson und Trude Schmidl-Waehner), die mit sehr ermutigenden Ergebnissen vergleichende Untersuchungen von »blinden« Persönlichkeitsbeschreibungen unternahmen, die, unabhängig voneinander, auf der Rorschach-Methode, Schmidl-Waehners Kunsttechnik und der Graphologie beruhten.
Obwohl alle diese Ergebnisse eher als erste Schritte auf dem Weg hin zu einer umfassenden Objektivierung der Methoden denn als schlüssige Beweise ihrer Zuverlässigkeit angesehen werden können, erscheinen sie doch als höchst ermutigend, wenn man die Komplexität nicht so sehr der Methode selbst als ihres Gegenstandes, der Persönlichkeit, in Betracht zieht. Das grundsätzliche Problem der Gewinnung objektiver Kriterien, anhand derer Persönlichkeitsbeschreibungen – auf der Basis der Graphologie ebenso wie jeder anderen Technik – aussagekräftig überprüft werden können, wird noch verwickelter, wenn wir die relativ einfache Situation, die die für Punkteskalen geeigneten Persönlichkeitsbewertungen auf bestimmte Züge sozialen Funktionierens hin darstellen, hinter uns lassen und auf das klinisch weit interessantere Feld graphologisch gewonnener umfassender Persönlichkeitsbeurteilungen vorrücken. Um einen korrekten Bezugsrahmen für die Objektivierung solcher Beurteilungen aufzustellen, müssen wir zuerst wissen, welche allgemeine Ordnung von Phänomenen sie beschreiben, da nur dieses Wissen uns in die Lage versetzen wird, nach der korrespondierenden Ordnung von Phänomenen in der Realität zu suchen.
Im Vorfeld der systematischen Analyse, der die Schriftprobe in den verschiedenen Bewertungsdimensionen unterzogen wird, konzentriert der Gutachter sich auf die Probe als ganze, eliminiert ihren Inhalt gänzlich aus dem Beobachtungsfeld und läßt das letztere zu einem Muster von Bewegungsspuren werden. In der passiven und doch aufmerksamen visuellen Erfahrung dieses Musters spielen die spezifischen sozialen Funktionen des Schreibens für den Beobachter keine Rolle mehr, und jegliche intellektuelle Aktivität auf seiner Seite ist noch ausgeschaltet. In dieser Phase der Untersuchung und kraft ihrer kann der Gutachter nicht nur einen Gesamteindruck der Probe gewinnen, sondern auch zulassen, daß einzelne oder wiederkehrende Eigenschaften derselben seine Aufmerksamkeit erregen; und genau dieser ganzheitliche Blickwinkel wird in der Untersuchung noch einmal am Ende eingenommen, wo er zur Wiederherstellung eines eigentlichen Gesamtbezugsrahmens dient, in den die verschiedenen Beobachtungsdaten eingefügt werden können,