Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Loeff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783938555286
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      Über die anschließenden drei Jahre klinischer Studien ist nicht viel zu berichten. Politisch war die Zeit an der Uni ruhiger. Das Studium bot jetzt Patientenkontakte und ebenfalls eindrucksvolle akademische Lehrer, von denen ich nur einige erwähnen kann. Ich erinnere mich besonders an Professor Linser, den Lehrstuhlinhaber für Hautkrankheiten der Charité. Er war ein konsequent links eingestellter, energischer bis bullig wirkender Mann. Linser kämpfte ohne Unterlass und ohne Rücksicht auf die Psyche seiner oft hochkarätigen Gesprächspartner für seine Patienten. Einmal zeigte er uns ein Bild eines durch Hauttuberkulose schrecklich entstellten Gesichtes. In das allgemeine Schaudern hinein, sagte er: „Das habe ich beim letzten Empfang Otto Grotewohl (damals Ministerpräsident der DDR) neben den Essteller gelegt und ihn gefragt, wann wir endlich dagegen wirksamere Medikamente kriegen.“

      Solche Begebenheiten berichtete er häufig. Ob er bei den so Angesprochenen immer beliebt war, weiß ich nicht, erfolgreich war er allemal und für seine Ziele brannte er und konnte auch begeistern. Der Hörsaal war optisch super ausgestattet: Ferngläser an schwenkbaren Halterungen auf allen 400 Sitzplätzen, ein so genanntes Patientenepiskop, das ermöglichte, winzige Pickelchen des vorgestellten Patienten riesig groß zu projizieren. Hautärztliche Diagnosen werden weitgehend nach dem Aussehen der krankhaften Hautveränderungen gestellt, daher ist gutes Sehen hier so wichtig. Linsers Spitzenleistung war seine Klimatherapie und deren Durchsetzung. Damals kam mit seinem Zutun die Behandlung der Asthmatiker und Ekzematiker durch Seeklima auf. Nach jahrelangem Kampf hatte unser konfliktfähiger Professor tatsächlich ein Schiff für Kurreisen dieser Patienten binden können. Und nicht nur irgendein Schiff, sondern die „Völkerfreundschaft“, das bekannteste Urlauberschiff der DDR. Unter dem tat er es nicht! Das gelang ihm zwar erst nach Abschluss meines Studiums, aber gesprochen hat er schon vor uns von seinem hohen Ziel. Die Reisen schipperten nicht nur durch DDR-Hoheitsgewässer, sondern führten ins klimatisch günstige Mittelmeer, obwohl ab 1961 schon die Mauer stand und Fernreisen problematisch waren.

      Professor Otto Prokop, war aus Österreich gekommen, und las Gerichtsmedizin, die man heute meist Rechtsmedizin nennt. Er war ein bedeutender Fachmann, besonders auf dem damals neuen Gebiet der Haptoglobine. Das sind Blutbestandteile, deren Struktur präzise vererbt wird. Ihre Analyse diente daher wesentlich zur Vaterschaftsbestimmung, die vorher nur ungenauer möglich war. Mit diesem schmalen Merkmalspektrum ließen sich bei sexuell sehr wechselbereiten Kindsmüttern nicht alle als Kindesvater vermuteten Männer ausschließen. Hier konnten die von Prokop in unterschiedliche Gruppen differenzierbaren Blutbestandteile wesentlich weiter helfen, wenn auch diese Untersuchung nicht die absolute Sicherheit bot, die heute mit der Erbgutanalyse der DNS erreicht wird.

      Prokop war ein ausgezeichneter Vortragender, der uns durch ungewöhnliche Fragestellungen immer wieder überraschte. Er setzte zur Veranschaulichung sehr viel Bild- und Filmmaterial ein, das in seinem Institut angefertigt wurde. So sahen wir Tatortfotos von Verbrechen und Zeitlupendarstellungen, wie ein Pistolengeschoss den menschlichen Körper zerfetzt. Diese Versuche wurden an Leichen gemacht. Die Ergebnisse sind für die Kriminalpolizei unentbehrlich. Eines Tages brachte Prokop, der stets im schwarzen Anzug, weißem Hemd und mit Fliege angetan seine Vorlesung hielt, eine Pistole zu Demonstrationszwecken mit – eine echte Parabellum 08. Es war ein faszinierender Anblick, wie der hochelegante Herr schnell, souverän und geschickt mit diesem Mordinstrument umging, um uns mit Übungspatronen zu zeigen, wie die leeren Hülsen bei den einzelnen Waffenmodellen seitlich oder nach oben ausgeworfen und nach ihrem Fundort der Platz des Schützen am Tatort bestimmt werden kann. Auch die Entfernung des Schützen zum Beschossenen lässt sich am letzteren feststellen.

      Prokop demonstrierte uns auch Schädel-Röntgenbilder mit Resten eines Geschossprojektils im Gehirn. Sie stammten von einem Offizier der Naziwehrmacht, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Antifaschist ausgab. Der Kopfschuss war ihm angeblich von einem anderen Offizier aus einer Entfernung von mehreren Metern bei einer politischen Auseinandersetzung beigebracht worden. Prokop wies nach, dass die Geschossbruchstücke eindeutig aus einem aufgesetzten Nahschuss in die rechte Schläfe stammten. In Wahrheit handelte sich also um die Überreste eines Selbstmordversuches. So lernten wir bei aller Sympathie für eine Sache eindeutig bei der Wahrheit zu bleiben!

      Ein herausragend guter Erklärer schwieriger Zusammenhänge war der Kinderkliniker Professor Dost. Es gibt bei Menschen aller Altersgruppen die Fragestellung, wie rasch die Niere einen Stoff aus dem Blut ausscheidet. Das wird mit einer Zahl erfasst. Sie ähnelt mathematisch, aber eben wirklich nur rechnerisch, der Angabe von Halbwertszeiten radioaktiver Stoffe und wird Clearance-Wert (Klärwert) genannt.

      In der Vorlesung über Innere Medizin beim Erwachsenen war das auch schon Thema, und ein guter Nierenspezialist und mittelmäßiger Erklärer mühte sich sechs Vorlesungsstunden mit der Darstellung ab. Danach hatte die Hälfte von uns etwa 50 Prozent des dargebotenen Stoffes verstanden. Als Kinderarzt ging Dost das Thema einige Zeit später an. Er benötigte dafür ganze 45 Minuten, drang in dieser Zeit bis zu mathematischen Beschreibungen des sinkenden Blutspiegels vor, erhielt – ganz unüblich, schon gar bei Mathematik vor Medizinern – mehrfach Szenenbeifall und vermittelte uns in dieser Zeit Kenntnisse, die ich noch heute jederzeit reproduzieren und auf analoge Sachverhalte im Beruf anwenden konnte. Leider blieb uns Professor Dost, dieser großartige Didakt und Autor des DDR-Fachbuches „Der Blutspiegel“ nicht erhalten, sondern ging nach Westdeutschland ab.

      Bemerkenswert war auch Professor Gietzelt, der Radiologe und Strahlentherapeut. Es war die Zeit der Atombombenversuche in der Atmosphäre und dem Boden, die weltweit entsprechende radioaktive Niederschläge hervorriefen, ahnungslose japanische Fischerbootsbesatzungen und Südsee-Touristen durch Strahlenkrankheit töteten, sowie missgebildete und radioaktiv strahlende Fische hervorbrachten. Hier sah sich Gietzelt auf seinem Fachgebiet gefordert.

      Gietzelt stand mit seiner Meinung nicht allein und schließlich konnten derartige Versuche weltweit verboten werden. Gleichzeitig hat Gietzelt die Entwicklung strahlungsarmer Röntgenverfahren, wie der Schirmbildtechnik, unterstützt und zur überlegten Nutzung der Röntgendiagnostik gemahnt.

      Medizinstudenten mussten in den Studienferien innerhalb der drei klinischen Studienjahre insgesamt sechs Monate Studienpraktika – sogenannte Famulaturen – in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen durchführen, um ihr Wissen durch Praxis zu vertiefen. Sie wurden dabei unter Aufsicht der Stations- und Oberärzte an Patienten herangeführt, lernten Blutentnahmen und die Verabfolgung von Spritzen, Sie erfragten die Krankenvorgeschichte (Anamnese), deren Wichtigkeit leider oft unterschätzt wird. Die Famuli wurden daher auch gelegentlich als Anamnesenknechte verulkt. Der Patient berichtet sehr oft über seine eigenen Deutungen und die Meinungen der vorher behandelnden Ärzte, soll aber dazu angehalten werden, den Hergang und die Beschwerden zunächst ganz ohne Bewertungen zu schildern. Das erfordert eine gute Mischung von freier Rede des Patienten, die sein Wesen spiegelt und gezielten, aber nicht suggestiven Fragen. Das will gelernt sein, erfordert Übung und oft auch weitere Nachfragen, wenn neue Befunde neue ärztliche Deutungen nahe legen.

      Neuerdings trainieren Medizinstudenten das richtige Fragen sogar vereinzelt an eingewiesenen Schauspielern.