Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Loeff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783938555286
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sind zur Vermittlung des Lehrstoffes und Darstellung der wissenschaftlichen Überzeugung des Dozenten bestimmt. Eine bemerkenswerte Ausnahme machte einmal der Lehrstuhlinhaber für Chirurgie, Professor Felix.(7) Er hatte sich einige Tage von einem Assistenten vertreten lassen und „entschuldigte“ sich für seine Abwesenheit mit den Worten: „Ich war in Mexiko-City zu einem internationalen Fachkongress. Thema: Das Carcinom!“ Dann erläuterte er uns kurz die aktuelle Tendenz, den Krebs nicht nur herauszuschneiden, sondern stärker auch Bestrahlung und Medikamente einzusetzen – ein Trend zur kombinierten Therapie, der bis in die Gegenwart anhält.

      Und dann machte er uns eine große Freude: „Sie werden ja zum großen Teil nie nach Mexiko kommen. Ich habe Ihnen einige Dias mitgebracht“. So zeigte er uns die teils von altindianischer, vom spanischen Kolonialbaustil und vom modernen Mexiko geprägten Bauten, wie das Haus der drei Kulturen und die großartigen Bilder von Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco. Mir fiel besonders ein Bild auf. Es verglich Kapitalismus und Kommunismus in allegorischer Darstellung. Beherrschend thronten Marx, Lenin und Trotzki, der in der DDR so sehr Verpönte. Auf der Seite des Kapitalismus erblickte man Armut und irrsinnigen Reichtum, Krieg und die Göttin der Vernunft von antiker Schönheit – und in Ketten. Der Kommunismus war positiv dargestellt: frohe Arbeiter, Harmonie und Freude. Mittendrin ein Wermutstropfen: die Göttin der Vernunft – frei, aber ohne Kopf! Ich kann nicht mehr feststellen, welcher der großen mexikanischen Monumentalmaler dieses Werk geschaffen hat. Im Internet ist das Kunstwerk für mich nicht auffindbar. Aber seit dem Lichtbildvortrag von Felix finde ich die mexikanischen Monumentalmaler noch eindrucksvoller, als vorher schon.

      Der Doktortitel war und ist für den Mediziner neben seinem wissenschaftlichen Wert eine Imagefrage. Patienten reden ihren Arzt damit an, egal ob der ihn führt oder nicht. Die dazu nötige Dissertation darf zwar erst nach dem Staatsexamen eingereicht und beurteilt werden, aber nichts sprach damals – die heutige Praxis kenne ich nicht – dagegen, schon vorher an dieser Schrift zu arbeiten. Damit begannen viele nach dem Physikum, das heißt im dritten bis fünften Studienjahr. Voran gingen diejenigen Kommilitonen, deren Eltern Ärzte waren, weil sie wussten „wie der Hase läuft“.

      Zum Promovieren brauchte man einen Doktorvater, der ein Thema vergab, also eine kleine Forschungsaufgabe, deren Ergebnis er in sein wissenschaftliches Gesamtkonzept einbauen konnte. Wir waren in Berlin nach dem Physikum noch ungefähr 320 Studenten in unserem Studienjahr, die anderen waren teils dem Studium nicht gewachsen, zum anderen Teil an die Medizinischen Akademien Magdeburg und Dresden abgegangen. Diese Orte verfügten über keine vorklinischen Lehrstätten, konnten jedoch das klinische Studium in guter Qualität durchführen, sodass viele Studenten dorthin gingen, weil sie aus diesen Gegenden waren.

      Alle drei Studienjahre hatten zusammen demnach ungefähr 1000 Studenten und fast alle wollten einen Doktorvater haben, den man selbst wählen und ansprechen musste. Kein Wunder, dass viele Lehrstuhlinhaber über solche ehrenvollen Bitten nicht nur froh waren, sondern schon genug Kraft in die wissenschaftliche Anleitung ihrer bereits angenommenen Doktoranden steckten und weitere Anfragen eher als Plage empfanden. Dazu kam noch etwas anderes. Manche Lehrstuhlinhaber gingen in den Westen und fielen damit für die weitere Betreuung ihrer Doktoranden in Ostdeutschland aus. Einige Studenten, die ihre Dissertation schon begonnen hatten, konnten dann mit viel Glück einen anderen Dozenten finden, der die angefangene Arbeit für seine Vorhaben gebrauchen konnte und sie unter seiner Regie fortführen ließ. Aber das war nicht immer möglich. Dann wanderten die bisherigen Arbeitsergebnisse meist in den Papierkorb. Einen Mitstudenten in meiner Seminargruppe traf dieses Missgeschick in knapp drei Jahren drei Mal. Dann war seine Geduld am Ende. Er folgte seinem letzten Doktorvater nach Westdeutschland, studierte dort weiter und setzte dabei auch seine angefangene Dissertation fort.

      Auch ich selbst hatte auf diesem Gebiet kein besonderes Glück. Ich arbeitete beim Physiologen Pichotka, einem guten Fachmann aus Süddeutschland, über Wärmeregulation des menschlichen Körpers. Dazu mussten Versuchspersonen eine Hand in eiskaltes Wasser hängen, erst unvorbereitet, dann nach Aufheizung ihres Körpers mit einem warmen Fußbad. Die Kältewirkung auf die gekühlte Hand wurde an ihr selbst und die Fernwirkung dieser kalten Bäder wurde – das war das Wichtigste – vergleichend auch an der anderen Hand gemessen.

      Meine Versuchspersonen für diese Experimente sollte ich selbst unter den Kommilitonen und anderen Bekannten werben. Geld oder eine andere materielle Entschädigung gab es dafür nicht und meine schmale Börse schied dafür aus. Natürlich hielt sich der Andrang der Versuchsteilnehmer in äußerst überschaubaren Grenzen; die häufigste Versuchsperson war ich selbst. Da ich auch noch die Versuchsapparaturen aufbauen, sowie das Stangeneis für die Wasserkühlung manuell zerkleinern und herantragen musste, waren die Messergebnisse durch diese zahlreichen Störfaktoren beeinträchtigt und ihnen nur schwer eine klare Aussage zu entnehmen.

      Dennoch ermutigte mich Pichotka weiter zu machen und die Resultate schriftlich niederzulegen. Das zog sich, weil sie schwer interpretierbar waren, bis über das Staatsexamen hinaus, über das ich noch berichten werde. So werkelte ich noch während meiner ersten Monate in Demmin neben meiner begonnenen Berufsarbeit daran – bis zum 13. August 1961. An diesem Tag errichtete die DDR die Mauer, mit der sie Westberlin einschloss. Pichotka verbrachte seinen Jahresurlaub gerade in der westdeutschen Heimat. Er bot – so habe ich dann gehört – der DDR seine Rückkehr an, wenn man ihm seinen westdeutschen Pass und damit die Reisefreiheit beließe. Das wurde abgelehnt. So blieb er drüben. Natürlich hatten das seine Assistenten und Doktoranden, die in Berlin arbeiteten und lebten, sofort erfahren und konnten sich unverzüglich entsprechend kümmern. Ich hatte einen Informationsrückstand von etlichen Tagen. Da war jeder telefonische Versuch in Berlin schon sinnlos, von persönlichen Vorsprachen zu schweigen. So blieben mir nur ein voller Papierkorb, Erinnerungen und ein paar Kenntnisse wie der Mensch sich selbst heizt und seine Wärme abgibt.

      Am 10. Juni 1959 erhielt die Humboldt-Universität einen neuen Rektor. Das nennt man traditionell Investitur, im Lateinischen „Einkleidung“, hier Einführung in sein Amt. Der Tag war vorlesungsfrei. Dafür gab es vormittags eine große Festveranstaltung mit Reden, dem Akademischen Senat in vollem Ornat und guten Musik- und Tanzdarbietungen. Wir sollten den Festakt möglichst besuchen, was sich wegen des kulturellen Niveaus auch lohnte. Abends wurde der neue Rektor traditionell mit einem Studenten-Tanzvergnügen, dem Investiturball, gefeiert. Auf Zureden meiner Freunde ging ich hin. Es war ja immerhin eine Gelegenheit, Studenten und besonders Studentinnen anderer Fakultäten kennen zu lernen. Sehr bald gefiel mir eine freundliche junge Dame im grünen Kleid, die von ihrer älteren Schwester begleitet wurde. Wir tanzten viel miteinander und ich begleitete sie bis an ihre Haustür. Wir trafen uns dann fast jede Woche und lernten uns näher kennen. So erfuhr ich auch, warum sie zum Investiturball gekommen war – es war ihr 22. Geburtstag und in ihrem Studentenzimmer langweilte sie sich. Sie war Romanistin, spezialisiert auf Französisch und Latein und wollte Lehrerin für diese Fächer werden. Ich komme noch mehrfach und gern darauf zurück.

      In der DDR galt die Maxime: der Staat bezahlt das Studium, verlangt aber dafür, dass der Absolvent in den ersten drei Berufsjahren dorthin geht, wo ihn der Staat am dringendsten benötigt. Das löste zwar bei manchen Studenten wenig Freude aus, wurde aber durchgesetzt. Nur liefen die Lenkungsmechanismen dafür bei den Medizinern und bei den Lehrern unterschiedlich ab.

      Bei den angehenden Ärzten hingen mehrere Monate vor dem Staatsexamen Listen mit den Ortsnamen aus, die dringend Ärzte brauchten. Und die wurden fast überall gebraucht. In der Praxis war daher die Pflicht, an den staatlich vorgegebenen Arbeitsort zu gehen, mit einer breiten Wahlmöglichkeit verbunden. Nur Berlin bildete eine Ausnahme. Weil es relativ gut ärztlich besetzt war, hatten nur wenige Absolventen die Chance, in Berlin zu bleiben. Allerdings nahm man auf jene Rücksicht, die in Berlin ehelich gebunden waren. Bei den Romanisten war das ähnlich, sodass dort gewitzelt wurde: