Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Loeff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783938555286
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mir selbst und meinen Mitstudenten aber gerade noch so ertragen, denn der Protest gegen unsere vormilitärische Ausbildung hatte indessen so viel Eigengewicht gewonnen, dass das Vorhaben nicht mehr ernstlich durchsetzbar war. Außer ein paar Marschübungen, an denen sich trotz allgemeiner Pflicht nur wenige Kommilitonen beteiligten, und anderen lächerlichen Versuchen, so zu tun, als fände etwas statt, kam nichts von Bedeutung nach. Nur ich hatte den Ärger. Studenten aus gut situierten Arzthaushalten, die meine Geldsorgen gar nicht verstehen konnten, schalten mich ins Gesicht hinein, ich hätte mich verkauft. Das musste ich schlucken, denn sie hatten ja Recht.

      Arbeitskräftemangel war in der DDR ein Dauerzustand. So wurden bei besonderen Arbeitsbelastungen in der Industrie und der Landwirtschaft Studenten jährlich ein Mal zu Arbeitseinsätzen herangezogen, die meist knappe zwei Wochen dauerten. Natürlich kamen nur Hilfsarbeiten in Frage, meist Kartoffeln vom Acker sammeln. Das geschah damals noch mit Hand, Vollerntemaschinen gab es erst später. Im Winter gab es in den riesigen Tagebauen des Lausitzer Braunkohlenreviers immer wieder die gleichen Schwierigkeiten: Die beweglichen Gleise, auf denen die Kohle aus dem Tagebau gefahren wurde, versackten in Matsch und Schlamm oder froren am Erdreich fest. Die vereiste Rohbraunkohle, die von der Reibungswärme beim Baggern aufgetaut war, fror beim Transport in den stählernen Transportwagen wieder fest und musste zum Entladen losgeschlagen werden.

      Ungläubig staunend sahen wir am Bahnhof Senftenberg frisch gefallenen Schnee, der schon nach zehn Minuten eine Rußschicht trug. Luftreinhaltung war in dieser Gegend damals abgeschrieben, die elektrischen Rauchgasfilter der Kraftwerke waren außer Betrieb, da sie ungefähr sechs bis sieben Prozent der erzeugten Energie fraßen. Bewundernd standen wir vor der gewaltigen Tagebautechnik: Bagger, deren Schaufeln anderthalb Kubikmeter Erdreich fassten, Schaufelradbagger, die Rohbraunkohle aus dem Flöz abschabten, als sei sie lose. Nie hatten wir lose auf die Erde gelegte, bewegliche Bahngleise gesehen. Ein Braunkohlentagebau ist ein riesiger Graben, der nach der Abbauseite wandert, das Erdreich über der Braunkohle (Abraum) abträgt, die Braunkohle darunter entnimmt und das Erdreich auf der ausgekohlten Seite mit einem riesigen Transportband, Förderbrücke genannt, abkippt.

      Schema eines Braunkohlentagebaues – eigene Zeichnung

      Wirkprinzip einer Abraumförderbrücke - wikipedia, modifiziert nach Loeff

      Dazu muss alles auf der Tagebausohle in Abbaurichtung wandern: Tagebaugeräte, Bahngleise samt zugehörigen Stromleitungsmasten und sogar die Aufenthaltsbuden sind über einen Stahlträger mit dem Gleis verbunden. Die Gleise werden mit einer Gleisrückmaschine bewegt. Es beeindruckte uns fürs Leben, als wir in der Frühstückspause Kaffee eingossen und das Geräusch des Gleisrückers noch nicht kannten. Plötzlich ruckte unser Aufenthaltsraum 30 Zentimeter weiter und der heiße Kaffee war auf der Hose. So lernten wir, vorher zum Fenster hinaus zu sehen und erst danach mit Kanne oder Besteck zu hantieren.

      Tagebaugeräte sind Wunder der Großtechnik. Die Förderbrücke in Lichterfeld bei Finsterwalde dient heute nach ihrer Stilllegung als viel bestaunte touristische Attraktion. Eine französische Delegation, für die meine Frau dolmetschte, beeindruckte es besonders, dass sie mit 502 Metern Länge wesentlich größer ist, als der Eiffelturm, der 320 Meter in der Höhe misst. Und außerdem war sie, als sie im Dienst stand, auch noch beweglich!

      Mehrere Begebenheiten erinnern mich an das Dorf Genschmar (jetzt Bleyen-Genschmar) im Oderbruch, Nähe Kostrzyn/Küstrin. Dort hatte die Sowjetarmee bereits Ende Januar 1945 einen Brückenkopf über die Oder gebildet, der bis Mitte April heiß umkämpft war, wobei der Ort fast völlig zerstört wurde. Mühsam und notdürftig wieder aufgebaut, riss das Oderhochwasser 1947 erneut das halbe Dorf fort. Die Bevölkerung verlor vieles, auch den Lebensmut. Genschmar wurde deshalb zum Jugendobjekt erklärt. In Jugendobjekten, von denen es in der DDR mehrere gab, sollten unter Organisation der FDJ und mit dem Arbeitselan junger Menschen besondere Kraftanstrengungen helfen, schwierige, auch entbehrungsreiche Aufgaben zu lösen. So lernten auch wir Medizinstudenten ungefähr 1958 diese Ortschaft kennen.

      Vielleicht war uns der (falsche) Ruf voraus gegangen, Faulpelze zu sein, oder die dortige FDJ-Leitung war über unsere früheren Studentenunruhen verzerrt unterrichtet. Jedenfalls empfing uns der örtlich verantwortliche Funktionär mit einer drohenden Rede und dem Satz: „Ich diskutiere mit der Faust auf dem Tisch!“ Das war nun genau das falsche Rezept. Geht es ruhig und sachlich um Argumente, kann ein Einzelner seine Meinung behaupten und vielleicht auch eine Masse überzeugen. Aber da es hier mehr um Lautstärke gehen sollte, waren wir 34 jungen Männer und 17 Mädchen, die sich untereinander kannten und verstanden, dem einen Jugendfunktionär stets stimmlich überlegen. Gleich am ersten Abend setzten wir andere Quartiere für unsere Mitstudentinnen durch, da die zugewiesenen bei leichten Oktober-Nachtfrösten nicht heizbar und nur mit zugigen Fenstern ausgestattet waren. Sie zogen in unsere etwas bessere Baracke, in die leer gebliebenen Zimmer ein. Die Furcht der örtlichen FDJ-Leitung, das Jugendleben könnte dann nachts vielleicht zu froh werden, erwies sich als unbegründet, obwohl natürlich auch Medizinstudenten keine Mönche oder Nonnen sind.

      Eines Abends – wir bereiteten gerade ein kleines Fest vor – wurden wir Jungen noch einmal herausgetrommelt. Auf der nächsten Bahnstation war außerplanmäßig ein Waggon mit Mauersteinen eingetroffen, die wir noch abends entladen sollten. Ein Zimmerkollege, dem ich meinen Unwillen ausdrückte, schrie mich an, dass solche Unregelmäßigkeiten der Eisenbahn schon vorkommen könnten und durch unsere Arbeit auszugleichen seien. Ich spottete zurück, dass die Demontage des zweiten Eisenbahngleises durch die UdSSR uns solche Transportstörungen beschert hätte. Alles grinste. Er schwieg.

      Konkreter verlief die Debatte mit dem örtlichen FDJ-Verantwortlichen, der mit uns in der gleichen Baracke lebte. Er versicherte unter unserem Druck, er würde bei der Waggon-Entladung mithelfen. Wir sollten ihm Bescheid geben, wenn der LKW da wäre, der uns hinbrächte. Dann jedoch schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein und vergaß seine Zusage in den Armen eines lieben Mädchens aus der Nachbarschaft. Doch nicht lange: Der angekündigte LKW traf ein und wir stiegen auf. Und dann begannen die Sprechchöre, straßenweit hörbar, die unseren FDJ-Freund riefen. Keine Reaktion. Der LKW wartete und zwei unserer kräftigsten Leute stiegen ab, um an seiner Tür zu klopfen und zu rufen. Keine Reaktion.

      Schließlich traten sie die Tür ein, ließen dem vergesslichen Verantwortlichen nur wenige Augenblicke und verluden ihn dann samt Mädchen, das immer noch an seinem Hals hing, auf das Fahrzeug. Die Schöne wurde unterwegs nahe ihrem Elternhaus abgesetzt und unser Freund beim Abladen und Weiterreichen der Mauersteine so eingereiht, dass es kein Entrinnen, Bummeln oder Kneifen geben konnte. Der Erfolg war überwältigend. Er bedankte sich, von uns gerufen worden zu sein, lobte die Schönheit gemeinsamer Arbeit und über die eingetretene Tür wurde kein Wort verloren. Als wir zurück kamen, hatten unsere Mitstudentinnen schon alles wunderbar vorbereitet und die Fete konnte sofort losgehen. Sie wurde noch schöner, als wir vorher gehofft hatten.

      Unsere Gruppe musste einen Straßengraben ausheben. Keine leichte Arbeit. Der Boden war lehmig und musste gründlich mit der Spitzhacke gelockert werden. Nach dem Ausheben klebte er teilweise so fest am Spaten, dass er ebenfalls mit der Hacke von ihm abgeschlagen werden musste. Bei dieser nur langsam voranschreitenden Arbeit bemerkten wir an einer Stelle eine blaue Verfärbung des Erdreiches, das dort noch zäher war. Plötzlich stießen wir auf einen Knochen. Ein Blick genügte uns Medizinern: das Felsenbein eines Menschen, ein Teil der Schädelbasis. Wer es durch Gewalteinwirkung verliert, lebt sicherlich nicht mehr. Beim nächsten Spatenstich kam eine Medaille an Licht, eine sowjetische Kriegsauszeichnung mit einer Nummer auf der Rückseite. Mir fiel das traurige Amt zu, Knochen und Medaille abends auf dem Gemeindebüro abzugeben und den Fundort sowie die Umstände für ein Protokoll genau zu beschreiben. Vielleicht hat dadurch eine Familie im weiten Sowjetland letzte traurige Gewissheit über das Schicksal eines Angehörigen erhalten – ich habe es nie erfahren.