Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Loeff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783938555286
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Seine Vorlesungen waren auf dem aktuellsten wissenschaftlichen Stand. Die 1953 entdeckte Desoxyribonukleinsäure (DNS beziehungsweise englisch desoxyribonucleinacid, DNA) und die durch sie vermittelte Vererbung durch Verdopplung des DNS-Stranges und nachfolgende Abtrennung des Doppels beschrieb er uns genauestens, nur dass die DNS eine Spirale bildet, war damals noch unbekannt.

      DNS-Doppelstrang bei der Trennung

      In allen Vorgängen und Forschungsergebnissen suchte und fand er auch meistens Bestätigungen der materialistischen Dialektik, das heißt der Marxschen Denkmethode. Er verlangte disziplinierteste Teilnahme an Vorlesungen und Seminaren. Vom Reporter einer westlichen Zeitung gefragt, ob das kommunistische beziehungsweise sowjetische Methoden seien, erwiderte er: „Nein, das habe ich aus den USA mitgebracht.“

      Bei den Karnevalsfeiern machte er kräftig mit. Maskiert fiel uns auf, was wir sonst übersehen hatten: Sein kräftiges Untergesicht trat hervor und gab ihm ein grobes Aussehen. Er nutzte das selbst für seine Maskerade, denn er kam als Räuber verkleidet daher.

      1956 war die Welt wieder einmal unruhig. Der 20. Parteitag der sowjetischen Kommunistischen Partei (KPdSU) enthüllte im Februar mit Chruschtschows Geheimrede Stalins Verbrechen, ohne deren tiefere Ursachen darzulegen und Mitwirkende zu benennen. Der italienische KP-Chef, Palmiro Togliatti, fragte öffentlich, ob es eine „Entartung“ des Kommunismus gegeben haben könnte, vor der alle zu warnen wären, die dem sowjetischen Beispiel folgten. Seine Frage wurde von der sowjetischen Parteiobrigkeit erst verschwiegen und dann brüsk zurückgewiesen. So machten sich einflussreiche kommunistische Parteien Westeuropas eigene Gedanken über ihren Weg zum Kommunismus. Das war die Geburt des Eurokommunismus.

      Auch Kommunisten der Ostblockländer waren beunruhigt. In der polnischen Stadt Poznán (Posen) entwickelte sich ein lokaler Arbeiteraufstand, dem blutig begegnet wurde, schließlich aber nur mit der Einsetzung des als gemäßigt geltenden Władysław Gomułka ins oberste Parteiamt beruhigt werden konnte. Dabei hatten sich die Unruhen an einer Bagatelle entzündet. In einer schon länger laufenden Theaterinszenierung eines früheren polnischen Autors gab es den bis dahin wenig beachteten Satz: „Aus Moskau ist stets nur Gesindel gekommen.“ Plötzlich machten sich die antirussischen Ressentiments, die – geschichtlich entstanden – in der polnischen Öffentlichkeit lebten und leider bis heute leben – in Szenenbeifall Luft. Das wurde in den Folgetagen bekannt und das Theater bekam Zulauf von Zuschauern die nur auf diese Passage warteten, um ihren antirussischen und antisowjetischen Frust zu äußern. Demonstrationen und Zuspitzungen folgten, bis die Waffen sprachen und das bisherige Staatsoberhaupt gehen musste.

      Selbst in der UdSSR-Literatur begann die als „Tauwetter“ (nach dem gleichnamigen Roman von Ilja Ehrenburg) bezeichnete, vorsichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und zeitweiliger Lockerung einiger Bestimmungen. Das alles nahmen wir aufmerksam wahr, denn der Schulunterricht hatte uns allen die Politik immer als wichtig dargestellt.

      Im Frühjahr 1956 gab es auch eine weitere Bestätigung für die von der DDR immer behauptete westliche Agententätigkeit. Nahe bei Berlin-Rudow wurde ein Tunnel entdeckt, der aus Westberlin heraus unbemerkt ungefähr 180 bis 200 Meter in das Gebiet der DDR hinein vorgetrieben worden war. Dort hatten westliche Abhörspezialisten ein wichtiges Telefonkabel angezapft und abgehört. Die DDR öffnete das entdeckte unterirdische Bauwerk nahe am Postkabel und durch einen zweiten Eingang ganz dicht an der Sektorengrenze und gab den Bau zur massenhaften Besichtigung frei. Auch ich stieg hinein und konnte an der hervorragenden elektronischen Ausstattung erkennen, dass hier keine Finte der DDR oder der Sowjetmacht vorlag, sondern wirklich modernere Technik installiert war, als ich sie aus Ostberlin kannte. Natürlich schrieben die ostdeutschen Zeitungen, mit anschaulichen Bildern versehen, ausgiebig über das Spionagenest Westberlin.

      Übrigens erhielt meine Familie in den siebziger oder achtziger Jahren auch noch ihre eigene Bestätigung für das Wirken westlicher Nachrichtendienste. Eine entferntere Verwandte von mir, die in Westdeutschland lebte, nahm die Arbeit als Zivilbeschäftigte in einer Bücherei der Bundeswehr auf. Dazu musste sie auf einem Fragebogen all ihre Verwandten mit deren Adressen angeben. Nicht alles trug sie sorgfältig ein, sondern verließ sich auf ihr nicht ganz sicheres Gedächtnis und so rief sie ihr Vorgesetzter nach einigen Wochen zu sich: „Nehmen Sie mal Ihr Adressbuch zur Hand und korrigieren folgende Adresse: „… Diese Verwandten wohnen jetzt in Senftenberg und nicht mehr in Großräschen.“ Da wusste also die Bundeswehr besser Bescheid, wo meine Schwiegereltern – damals schon hoch im Rentenalter – wohnten, als die besagte entfernte Verwandte es in den Fragebogen eingetragen hatte.

      Gleichzeitig machte die Entkolonialisierung erste Schritte. Der durch einen Putsch junger Offiziere schon vorher in Ägypten an die Macht gelangte Gamal Abdel Nasser beendete die bis dahin englandhörige Politik des Landes am Nil. Er wagte es, 1956 den unter britischer Kontrolle stehenden Suezkanal zu verstaatlichen und forderte damit Großbritannien und Frankreich heraus. Den Israeli sperrte er die Kanaldurchfahrt und den Golf von Akaba, womit er internationale Seefahrt-Abkommen verletzte.

      Ende Oktober 1956 folgte ein israelischer Angriff auf Ägypten, der Großbritannien und Frankreich den offenbar verabredeten Vorwand lieferte, selbst militärisch einzugreifen „um den Suezkanal zu sichern“. Der schwere Konflikt, der das Zeug zu einem Flächenbrand in sich hatte, wurde letztendlich diplomatisch gelöst. Er wurde selbst von sehr bürgerlich denkenden Studenten als eine Inszenierung angesehen, in der sich Israel von den ehemaligen Kolonialmächten kaufen und einspannen ließ. Die mit Abstand schärfste Verurteilung der israelischen Politik erfolgte durch Rapoport, dessen Eltern dort lebten.

      In diesem weltweit gespannten Klima erregten sich die Medizinstudenten unserer Universität im Oktober 1956 zunächst an einer Kleinigkeit, der bevorstehenden, abschließenden Sprachprüfung in Russisch. Sie war Bedingung für einen erfolgreichen Abschluss des Medizinstudiums insgesamt. Wir wollten sie dennoch irgendwie umgehen oder loswerden, weil die meisten von uns dem eher dürftigen Unterricht nicht viel Kenntnisse abgewonnen und dieses Examen zu fürchten hatten. Ob die Parole gegen die Prüfung auch, weil sie sich politisch ausweiten ließ, von prinzipiellen DDR-Gegnern gestreut wurde, weiß ich nicht, will es aber nicht ganz ausschließen, weil sich die Ereignisse so bemerkenswert rasch zu sehr prinzipiellen Auseinandersetzungen ausweiteten.

      Die FDJ, von der wir als Mitglieder verlangten, unsere Wünsche zu unterstützen, lehnte das erwartungsgemäß ab – nicht einmal zu Unrecht, schließlich galt der Studienplan, den wir mit der Immatrikulation akzeptiert hatten. Durch ihre Ablehnung geriet die FDJ jedoch nun selbst in die Kritik und es kam zur Frage, ob wir an der einheitlichen Jugendbewegung festhalten sollten oder auch eine andere Jugendorganisation