Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Loeff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783938555286
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hindurch mühelos die Kettenfahrzeuge mitzählen. Es waren viele Hundert, ehe ich endlich unruhig einschlief.

      An den Folgetagen war die Lage in Berlin noch gespannt. Die Treskowbrücke über die Spree zwischen Nieder- und Oberschöneweide wurde von sowjetischen Soldaten in einer Maschinengewehrstellung bewacht. Panzer waren in den Außenbezirken, zu denen Schöneweide gehörte, aber selten, in der Innenstadt schon häufiger zu sehen. Die S-Bahn fuhr noch tagelang nicht. Das führte zu einem traurigen Nachspiel. Ein junger Lehrer, Herr Hachfeld, wohnte in Eichwalde, am Stadtrand von Berlin und kam sonst mit der S-Bahn zum Unterricht. Als sie ausfiel, benutzte er sein Fahrrad. Zwischen Grünau und Adlershof gab es damals eine Brücke über den Teltowkanal, die heute Stelling-Janitzky-Brücke heißt und inzwischen umfassend erneuert wurde. Sie hatte aber damals unter den jungen Radfahrern einen üblen Ruf: Steiler Anstieg von der Straße zum Brückenscheitel, dazu Übergang von Asphaltbelag auf Kopfsteinpflaster und fast oben wechselte der einseitige Radweg auf die andere Fahrbahnseite.

      Unser junger Lehrer muss dieses Hindernis wohl schlecht gekannt haben und glaubte, den Seitenwechsel des Radweges noch rechtzeitig zu schaffen. Dabei geriet er unter einen LKW und wurde tödlich verletzt. Die ganze Schule trauerte, Lehrer wie Schüler. Ich werde seine Beisetzung nicht vergessen: Wir trauernden Schüler, meist in ungewohnten, dunklen Anzügen mit langen Hosen, standen bei glühender Hitze lange auf dem Friedhof. Mehrere kollabierten und mussten in die etwas kühlere Feierhalle gelegt und mit Wasser besprüht werden.

      Der 17. Juni 1953 hatte mehrere wahrnehmbare Nachwirkungen. Die Normerhöhungen wurden zurückgenommen. Eine Serie von Senkungen der staatlichen Festpreise für viele Nahrungsmittel und häufig gebrauchte Waren folgte. Der Lebensstandard verbesserte sich zusehends. 1958 wurden die Lebensmittelkarten abgeschafft. Sie waren eigentlich nur noch Berechtigungen zum Einkauf verbilligter Lebensmittel, aber die sinkenden Preise im übrigen Handel waren teils ebenfalls subventioniert und so dicht an das Niveau der Lebensmittelpreise auf Karten heran gesunken, dass die lästige Markenschneiderei entfallen konnte. Die geringe Differenz wurde durch einen allgemeinen Lohn- und Gehaltszuschlag von etwa 12 Mark und wohl auch eine entsprechende Rentenanhebung ausgeglichen und nach wenigen Monaten redete kein Mensch mehr davon. Nur dieser Zuschlag, der auf jeder Lohn- und Gehaltsabrechnung ausgewiesen wurde, erinnerte uns noch über viele Jahre daran, dass es einmal Lebensmittelkarten gegeben hatte.

      Relativ kurz vor dem Abitur häuften sich die Beitrittsanträge in die FDJ, was natürlich auch nach Karrierismus roch. Dennoch verwandte ich mich in einer Versammlung intensiv für „den Langen“, weil ich der Meinung war, dass eine politische Organisation nicht zu einseitig sein sollte, auch bekennende Katholiken aushalten und eventuelles Karrierestreben korrigieren könnte, ja sogar müsste. Ich wurde ziemlich heftig und deutete an, dass auch unser Direktor als Jugendlicher bei den Nazis war, wie ich im Ruderverein durch seinen Jugendfreund erfahren hatte. Nach der Versammlung eilte unsere Annemarie erwartungsgemäß ins Direktorzimmer. Am nächsten Tage warnte mich gleich beim Betreten der Schule ein Lehrer – ein älterer, standfester Kommunist, der in der Nazizeit gelitten hatte – unter vier Augen: „Wir haben im Lehrerkollegium über Sie gesprochen. Vermeiden Sie Äußerungen über die Vergangenheit des Direktors, die nicht zur Sache gehören“, könnte er noch hinzugefügt haben, falls ich mich richtig entsinne. Aber weiter kam nichts für mich Unangenehmes nach.

      Allgemeine Aufregungen verursachte ein anderer Vorfall. Es gab eine pädagogische Regel – vielleicht war es nur eine Kann-Bestimmung, denn sie wurde von den Lehrern permanent gebrochen – wonach pro Tag nur eine große Klassenarbeit geschrieben werden sollte, um die Schüler nicht zu überlasten. Auf diese Regel beriefen wir Schüler uns und manche Lehrer verschoben dann auch ihr Vorhaben, andere setzten sich durch. Das blieb meist eine Angelegenheit zwischen diesem Lehrer und der betreffenden Klasse.

      Eines Tages ging es um eine Russisch-Arbeit. Sie wurde gleich in mehreren Klassen abgelehnt. Unser Direktor erfuhr davon, interpretierte das als koordinierte Aktion gegen die Schuldisziplin und sogar gegen die Freundschaft mit der Sowjetunion. Er lief zu großer Form auf, informierte die Schulbehörde und wer weiß wen, entschuldigte sich in aller Form für unsere Unwürdigkeit beim tschechoslowakischen Botschafter und ließ mehrere Schüler unserer Schule verweisen. Eine Schülerin wurde sogar von allen Oberschulen der DDR ausgeschlossen. Sie hat allerdings irgendwie dennoch in der DDR das Abitur abgelegt. Die Sache gelangte, vermutlich begünstigt durch ihre überflüssige Dramatisierung an den RIAS und wurde in der Kabarettsendung „Der Insulaner“ kurz behandelt. Über die Schüler hieß es, sie wurden „geschasst“. Vermutlich hat diese Sendung in einer als feindlich geltenden Rundfunkstation die Lage der Betroffenen zusätzlich erschwert, aber darauf nahmen die westlichen Medien selten Rücksicht.

      Schließlich kam das Abitur und ich ging ihm mit ganz ordentlichen Zensuren entgegen. Nur die schlechte Sportzensur gefährdete den Gesamtdurchschnitt, denn sie wurde ohne Rücksicht auf körperliche Fähigkeiten oder Ungeschicklichkeiten mit ins Ergebnis eingerechnet und konnte bei undifferenzierter Betrachtung schaden. Angesichts knapper und heiß begehrter Studienplätze und eines de facto praktizierten Numerus clausus brauchte ich mindestens ein gutes, besser noch sehr gutes Abiturzeugnis, um Aussicht auf das von mir inzwischen erstrebte Medizinstudium zu haben. So richtete ich viele Anstrengungen auf den Schulsport, der nicht meine starke Seite war. Es wurden einige Fächer verbindlich geprüft, unter den mündlichen Prüfungen konnte man aber teilweise wählen. Der Biologielehrer empfahl mir, weil ich Medizin studieren wollte, mich in seinem Fach zu stellen. Das vermied ich tunlichst. Ich hatte in Biologie aus dem Unterricht sieben Einsen und eine Zwei zu Buche stehen. Als Vorzensur konnte nur die Eins herausgerechnet werden. Warum sollte ich die durch ein ungewisses Prüfungsergebnis riskieren, denn ohne Prüfung musste die Vorzensur unweigerlich zur Endzensur werden. Also meldete ich mich, sehr zum Verdruss des Biologielehrers, zur mündlichen Geografie-Prüfung an, denn deren Ergebnis konnte bei der Studienzulassung nicht sehr interessieren.

      Damals gab es noch keine Prüfungen mit standardisierten Fragebögen und der Sachverstand derjenigen Lehrkräfte, die unterrichtet hatten, war trotz aller einheitlichen Lehrpläne bedeutsam. Bewusste Tricks zum Vorteil oder Nachteil einzelner Prüflinge traute ihnen niemand zu und ein Prüfungsergebnis juristisch anzufechten, lag jenseits aller Überlegungen.

      Ich erreichte im Abitur die Gesamtnote „Gut“ mit einem Durchschnitt von 2,0. Ohne den leidigen Sport hätte es besser ausgesehen, aber ich war Zehnter meines Jahrganges von insgesamt 77 Schülern aller Parallelklassen. Das sah für die Uni ganz gut aus.