Als Thomas das Appartement gesehen hatte, war er so befremdet und geschockt, dass er zum ersten Mal ganz leise geworden war. Er war nicht wütend, nicht entsetzt. Er war sprachlos. Und zum ersten Mal hatte er ihr wirklich zugehört.
Sie erzählte ihm, was es mit dem Avatar auf sich hatte. Sie erzählte ihm von ihrer Liebe, völlig irrational unter den gegebenen Umständen, aber trotzdem unauslöschlich in ihr verankert. Sie erzählte ihm von ihrer Kindheit, dass sie Schläge schon von früher gekannt hatte und daher damit umgehen konnte. Sie erzählte ihm von ihrem Glauben an das Gute in ihm, von ihrem Vertrauen. Dass sich alles zum Guten wenden würde, wenn er sich nur einer Therapie unterziehen würde. Sie fragte ihn, ob er sie liebe. Warum er sie schlug. Warum er ihr immer wieder wehtat.
An diesem Abend rollten sie ihre Beziehung neu auf. Sie sezierten die guten wie die schlechten Dinge, und am Ende lagen sie sich weinend in den Armen.
Trotzdem wechselte Patrizia nicht wieder in ihren Körper zurück. Der Avatar war ihr Schutzschild in der Zeit, die Thomas brauchte, um das Ganze zu realisieren. Sie gab ihm die Codes der Alarmanlage nicht, als Selbstschutz, denn sie wusste nicht, wie weit sie ihm in dieser Phase des langsamen Begreifens trauen konnte. Zu groß war die Angst, dass er in einer unbeobachteten Minute in das Appartement schlüpfen und in einem Anfall unkontrollierter Raserei ihren biologischen Körper töten würde. Da sie sich vorstellen konnte, wie befremdlich die Situation für Thomas sein musste, aber auch wie demütigend, ertrug sie seine Ausbrüche und erklärte ihm immer wieder, dass sie das Ganze für ihn geplant hatte, weil sie ihm helfen wollte, einen anderen Weg einzuschlagen, und auch, dass sie die Schläge kaum spüren würde, die er dem Avatar verabreichte.
Nachdem er sich an die Situation gewöhnt hatte, verstrich ein weiterer Monat, der erstaunlich friedlich verlief. Thomas hatte sich im Griff, vergewisserte sich aber immer wieder, ob ihr die Schläge wirklich nichts ausmachten, ob es ihr gut ginge. Diese Fürsorge erinnerte sie an den Mann, den sie damals kennengelernt hatte, und ließ sie vor Freude weinen. Sie fühlte sich wieder so sicher, dass sie in ihren Körper zurückwechselte.
Eines Abends kam er mit der guten Nachricht nach Hause, dass er einen Therapeuten gefunden hätte. Der Haken daran war, dass der nächste Platz erst in sechs Monaten frei würde. Aber er hätte sich als dringender Fall ganz oben in die Warteliste eintragen lassen. Vielleicht – wenn ein anderer Klient absprang – würde er schon früher anfangen können. An diesem Abend schlossen beide aus einer Sektlaune heraus ein Abkommen, das Thomas die Wartezeit erleichtern sollte.
Wann immer er einen Wutausbruch heraufziehen spürte oder in eine Situation kam, die ihn die Kontrolle verlieren ließe, wollte er ein Codewort sagen, sodass Patrizia gewarnt war und in ihren Avatar wechseln konnte. Es sollte nur für absolute Notfälle sein, versicherte Thomas. Aber so weit wollte er es gar nicht kommen lassen. Schließlich liebte er sie mit jeder Faser seines Seins.
Doch diese Liebe allein konnte ihn letztlich nicht vor den gefürchteten Wutausbrüchen heilen. Also schlüpfte Patrizia immer wieder in ihren Avatar, so wie es besprochen war. Sie wusste, dass die Schläge nicht persönlich gemeint waren. Insgeheim liebte er sie, und was er mit seinen Fäusten malträtierte, war letztlich nichts weiter als eine Puppe. Eine teure, eine lebensechte, eine perfekt gebaute Puppe, aber eben nicht sie. Glaubte sie. Hoffte sie.
Je mehr Zeit verstrich, desto mehr gewöhnte sie sich daran. Am Anfang dachte sie noch voller Hoffnung, dass dieser Zustand nicht von Dauer sei. Er wollte etwas ändern, ihr zuliebe. Weil sie ihm wichtig war. Und eben doch mehr als ein Stück Scheiße, auch wenn er sie oft genug so behandelte. Letztlich würde ihr Plan aufgehen.
Irgendwann vergaß sie, die Tage zu zählen. Irgendwann wechselte sie nicht mehr in ihren wirklichen Körper. Das An- und Abschließen an die Lebenserhaltungssysteme war zu mühselig. Und mit dem Avatar erfüllte sie ihre Aufgaben so gut, wie mit ihrem Körper. Wozu die Mühe? Also begnügte sie sich damit, ihren Körper zu pflegen. Sie wusch ihn, salbte ihn ein, kümmerte sich liebevoll um ihn. Er sollte rein sein, wenn es endlich soweit war.
Irgendwann, dachte sie in einem dieser Momente, irgendwann werden wir wieder vereint. Wir alle drei – du, Tom und ich.
Was sie nicht wusste, war der Umstand, dass Thomas nicht mehr vorhatte, die Therapie anzufangen, die er ihr versprochen hatte. Denn auch er hatte sich sehr schnell an die Vorzüge des Avatars gewöhnt. Er liebte die Imitation. Es war viel einfacher, das Codewort zu sagen, kurz auf die Einwilligung zu warten und sich dann auszutoben. Er musste sich nicht mehr mit seinen Ängsten und Defiziten herumschlagen, er musste seine Schwächen nicht mehr vor einem anderen Mann oder, noch schlimmer, vor einer Frau offen darlegen. Psychologenschweine glaubten immer, dass sie dich ganz genau kennen. Einen Furz kennen sie!
Mit der Zeit begann er, Voranmeldungen zu platzieren. Er erzählte beispielsweise, dass er in eine stressige Situation geraten würde, ein wichtiges Meeting, vor dem ihm schon jetzt am Frühstückstisch graute. Er wüsste nicht, wie es ihm abends gehen würde, obschon er versuchen wolle, sich zusammenzureißen. Patrizia lernte schnell. Sie war bereits in ihren Avatar geschlüpft, wenn er abends nach Hause kam. Schlagen, schreien, quälen, ficken. Das entspannte ihn. Er liebte es, nach einer solchen Sitzung in Patrizias Armen zu liegen, und ihre Stimme zu hören, wenn sie ihn tröstete. Manchmal fragte sie ihn, wann die Therapie anfangen würde. Nachdem er das ein halbes Jahr hatte hinauszögern können – du weißt doch, Liebling, die Warteliste – begann er, ihr von Sitzungen vorzulügen. Es sei sehr interessant gewesen, er wüsste ein bisschen besser über sich Bescheid. Nur heute, heute seien die Pferde mit ihm durchgegangen, aber er wolle sich bessern. Schließlich liebte er sie.
Patrizia liegt auf der Couch und grübelt. Vormittags ist sie zum Chef herein gerufen worden. Lohnerhöhung, Beförderung. Man bietet ihr einen Job in Hamburg an. Es ist ein Karrieresprung – doch was wird Thomas dazu sagen? Gerade jetzt, wo bei ihm alles gut läuft. Die Therapie, sein Job. Endlich scheint er ein Bein auf den Boden zu bekommen. Er wird nicht wegziehen wollen. Wie sag ich’s meinem Kinde? Patrizia seufzt. Dass die Wäsche nicht fertig ist, wird ihm nicht gefallen, auch wenn seine Hemden gebügelt im Schrank hängen. Vielleicht hat sie ja Glück. Vielleicht hat er gute Laune und greift ihr bei der Hausarbeit unter die Arme – wovon träumst du nachts? Aber vielleicht kann sie ja doch alles schaffen, wenn sie nur fünf Minuten die Augen schließt und sich entspannt.
Die Lider werden schwer. Ihr Atem geht tief und regelmäßig.
Sie hört nicht, wie die Tür aufgeht. Sie hört nicht, wie er seine Aktentasche auf den Garderobentisch schmeißt. Sie sieht nicht, wie er sich sammeln muss, um nicht sofort aus der Haut zu fahren.
Die Küche, träumt sie. Ich muss unbedingt aufräumen.
Sie spürt Thomas erst, als er vor ihr in die Hocke geht und über ihr Haar streicht.
»Aktion Reiner Tisch?«, fragt er leise, gepresst, hungrig.
»Tisch«, murmelt sie im Halbschlaf. »Ja, ja, der Tisch.«
Er wundert sich zwar, warum sie nicht nachfragt, wie sonst immer. Doch nur für einen Moment. Denn eigentlich ist es ihm recht, dass er vorher nicht reden muss. Reden kann man ja später. Das, was vorher kommt, ist ihm bedeutend wichtiger.
Patrizia weiß nicht, wie ihr geschieht, als er sie an den Haaren vom Sofa zerrt. Sie kann die ersten Schläge nicht abwehren, schlaftrunken, wie sie ist. Danach explodiert der Schmerz in ihrem Körper. Ihr Fleisch brennt, in den Ohren gellen seine Schreie. Seine Wut tropft geifernd in ihr Gesicht. Nein, will sie rufen, halt, stopp! Doch sie kommt nicht dazu. Ein Schwinger presst ihr die Luft aus dem Magen. Hör auf, will sie schreien. Heute nicht, bitte, bitte nicht.
Gnadenlos treibt er sie durch die Wohnung, steckt ihren Kopf in die Kloschüssel, die seiner Meinung nach nicht sauber genug ist, schlägt ihr die Schmutzwäsche um die Ohren, stößt ihr den Besenstiel in die Rippen, weil er nicht dort steht, wo er hingehört. Schlampe, Dreckstück, Hure. Du blödes Stück Scheiße, ich werd’s dir zeigen! Faul auf dem Sofa liegen, während mein Chef mich rundmacht, dieses inkompetente Arschloch, dieser Flachwichser! Soll ich dir zeigen, was ich mit ihm machen will?
Sie taumelt durch die Wohnung,