HUMANOID 2.0. Gabriele Behrend. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Behrend
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658579
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über den Horizont gekrochen und hatte die Sterne mitgebracht. Bald war es soweit. Nach der Ernte sollte es ein kräftiges Wurzelgemüse geben. Sie atmete tief den Duft von Knoblauch und Koriander ein. Zimt Sternanis, Kardamom und Nelken gesellten sich aus dem warmen Ofen dazu, in dem Lebkuchen buk.

      Es war Weihnachtszeit. Advent. Advent wird abgeleitet von Adveniat, sagte sie sich, das heißt er kommt. Aly wusste nicht genau, wer dieses Jahr kommen würde, aber dass jemand käme, dessen war sie sich sicher. Und sie freute sich auf den Besuch. Dieses Jahr mehr denn je – warum, wusste sie nicht. Da war nur dieses Ziehen in der Brust, dieses Sehnen. Dieses Jahr würde er es sein. Nicht irgendjemand, sondern er, dachte sie mit einem Mal, viel drängender als sie es beabsichtigte. Erschrocken über die Heftigkeit dieses Gedankens schob sie ihn sofort in den hintersten Herzwinkel. Angst vor Enttäuschung?, spottete eine Stimme daraufhin in ihrem Kopf. Für einen kurzen Moment runzelte sie die Brauen. Sie kannte diese Stimme – und Himmel, sie hatte sie dermaßen satt! Früher einmal hatte diese Stimme sie ständig begleitet. Irgendwann allerdings hatte Aly angefangen sie zu überhören und irgendwann hatte sie tagelang nicht mehr an sie gedacht. Irgendwann einmal würde –

      Mit einem Zischen kochte das Wasser über. Aly musste lachen. Manchmal gab es keine schönere Melodie als die Küchengeräusche. Alles lebt. Alles geht voran. »Nicht träumen, Aly!«, rügte sie sich scherzhaft, hängte den Topf mit den Kartoffeln höher und wurschtelte sich durchs Küchenallerlei.

      Schließlich sah sie sich in dem Raum um, Es war ein einladender Ort, warm und duftend, gemütlich möbliert, ein Ort, an dem man sich zu Hause fühlte. Sie lächelte. Alles war bereit. Nun wollte sie die Ernte freisetzen und dann warten, dass der Himmel ihr ein wenig von dem zurückgeben würde, was sie in seinem Namen gab. Sie erwartete nichts. Aber sie wusste, dass sie beschenkt werden würde, ob sie es wollte oder nicht. Warum also nicht vorbereitet sein – auf alles und nichts?

      Fröhlich lief sie zur Tür. Öffnete. Einen Moment später stolperte ihr Herz.

      Das EKG spielte verrückt. Alarm, Alarm. Er musste handeln. Das war kein Atemaussetzer, das war ein Kammerflimmern – war es ein Kammerflimmern? Bitte nicht! – und er ganz allein hier. Verdammt, irgendwann musste es mal schief gehen. Die Anzeige des Geräts flackerte und blinkte, die Werte machten, was sie wollten. Er spurtete aus dem Raum, hinüber zu ihrem Bett, den automatischen Erste-Hilfe-Defibrillator in der Hand. Auspacken, Patches anschließen, Nachthemd hochschieben, Patches laut Anweisung anbringen und sich nicht, NICHT! aus der Ruhe bringen lassen.

      Sie starrte fassungslos auf das Feld. Die Ähren, die sich noch am Morgen sattsam grün und reif und angefüllt mit verheißungsvollem Leuchten auf starken Halmen gewiegt hatten, waren geknickt, verdorrt. Das Feld lag brach, so als ob ein heißer Wüstenwind darüber hinweggefegt wäre. An manchen Stellen stand es in Feuer, an anderen wiederum versanken die Lichtträger in dunkelbraun brackigem Schlamm. Ein Lachen schwang im Brausen des Feuers und des Windes mit, ein Lachen strich über den Horizont und nahm auch die letzten aufrechten Halme unter seine Faust. Doch dieses Lachen hatte nichts gemein mit Alys Lachen. Oder deinem oder meinem. Dieses Lachen war Hohn und Spott und getränkt mit Schwärze. Es kam auf Krähenflügeln daher und ließ sich in Scharen auf der verwüsteten Krume nieder, derweil Aly das Herz in der Brust zersprang. Als nur mehr Scherben übrig waren, wurde sie von einem gleißenden Licht gepackt und geschüttelt. Als der Blitz sich verzogen hatte, fand sie sich auf der Veranda wieder, die Augen starr auf die Katastrophe gerichtet, doch ohne Schmerz nun. Da war nichts, das sie angriff, nichts, das sie schmerzte. Da war nur mehr eine aus Hilflosigkeit geborene Leere, die ihr die Glieder lähmte.

      Die Maschinen schwiegen wieder. Der Defibrillator hatte sein Werk getan. Alles okay. Er atmete tief durch. Die Frau lächelte nicht mehr. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, ihr Körper schlaff. Vorsichtig legte er die Hand an ihr Gesicht. Ihre Haut fühlte sich kalt an, ein leichter Schweißfilm hatte sich gebildet. Normalerweise – bei jedem anderen Patienten – wäre er jetzt wieder in sein Kabuff gegangen, hätte auf den Notdienst gewartet, der eigentlich schon längst hätte hier sein sollen. Hätte das Buch aufgeschlagen und weitergelesen. Doch diesmal – jetzt, wo sie aus der größten Gefahr wieder sicher heraus war – war es ihm recht, dass die Nachtschicht trödelte. Diesmal wollte er sich nicht in die Welt in seinem Kopf flüchten. Diesmal saß er einer Wirklichkeit gegenüber, die ihn mehr faszinierte, als er sich selbst zugestehen wollte. Er hatte die Rechte noch immer an ihr Gesicht gelegt – er spürte dabei den Pulsschlag an ihrer Schläfe – als er mit der anderen Hand die ihre umfasste und an seine Brust hob. Der Kreis war geschlossen.

      Aly lag auf den groben Dielen der Veranda, hilflos. Der Geist war gelähmt, die Empfindung gedrosselt, sodass das einzige, das sie zurzeit wahrnehmen konnte, der eigene Atem war. Sie spürte ihn, wie er über ihre Lippen strich, sie hörte ihn, sie spürt das Heben und Senkens des Brustkorbes. Sie hatte die Augen noch immer geöffnet, doch fiel es ihr schwer, die Bilder die sie sah, zu deuten. Da war nichts, wo Ähren hätten stehen sollen. Da war eine chaotische ungeordnete Dunkelheit, zerfetzt von einzelnen Funken oder bekränzt von orangenem Feuerschein.

      »Nicht richtig!«, murmelte sie. »Das ist alles nicht richtig!«

      Langsam schob sie sich an die Kante der Veranda, zögernd griff sie nach einem geknickten Halm. Sie hielt ihn sich dicht vors Gesicht, schützend zwischen beiden Handflächen verborgen.

      »Zeig mir, wie es sein soll«, flüsterte sie. »Ich weiß, du lebst noch. Irgendwo. Irgendwie.« Und sie hauchte auf den Halm, wiegte ihn leicht, dachte an all die Liebe, die sie für ihn fühlte. Ganz allmählich kehrte die Bläue zurück. Aber sie war schwach und flackerte unstet. Schließlich erlosch sie ganz. Aly erschlaffte.

      Das Gefühl kehrte in ihren Körper zurück, in ihr Herz. Alles schmerzte. Sie krümmte sich zusammen, die Arme eng um den Leib geschlungen, so als ob sie alles festhalten müsste, was sie ausmachte, was zu ihr gehörte, als ob sie in Stücke zerbersten würde, wenn sie es nicht täte.

      Er spürte die Veränderung in ihrem Geist. Er spürte, wie das Leben in sie zurückkehrte, und er spürte, dass ihr das nicht guttat. Er sah ihr Winden, ihre schmerzverzerrte Miene. Nichts konnte sie zurückhalten. Ihr Gesicht war eine Leinwand, doch der Film, der sich hinter ihren Lidern abspielen musste, wollte er nicht sehen. Zuviel Schmerz.

      Doch anstatt sie loszulassen, aufzustehen, das Zimmer zu verlassen, legte er ihre Hand, die bis eben an seiner Brust geruht hatte, höher, an seine Schläfe. Warum er das tat? Das wusste er nicht und jetzt war nicht die Zeit für Fragen. Er schloss die Augen. Nur um sich einen Moment später auf einem verwüsteten Feld wieder zu finden.

      Aly bemerkte einen hellen Schimmer aus den Augenwinkeln. Es war weißes Licht, das sie spürte, weißes Licht, das sie sah, reines Licht, ganz anders als die schmutzig roten Flammen oder das letzte trübviolette Aufflackern. Sie hob den Kopf, um genauer zu sehen. Am Horizont war eine Gestalt aufgetaucht, hell leuchtend. Und dort, wo ihre Füße die Erde berührten, richteten sich die Halme wieder auf, grün und saftig wie zuvor.

      »Kann das sein?«, wollte sie fragen. »Wer bist du?«, wollte sie fragen.

      Doch dies war nicht die rechte Zeit für Fragen, also kniete sie weiter auf der Veranda und sah dem Wunder zu, das sich nicht mehr nur auf den Weg beschränkte, den die Erscheinung nahm, sondern sich nach links und rechts fortpflanzte. Wie Elmsfeuer flutete Licht hinweg über die zerstörte Grasnarbe, um das, was krank war, zu heilen und um das, was im Sterben lag, wiederzubeleben.

      Die Gestalt hielt auf halbem Weg zu Alys Kate inne.

      »Komm zu mir!«

      »Ich kann nicht« erwiderte Aly. »Ich traue mich nicht. Wenn ich mich bewege, werde ich zerbersten!«

      Das Wesen schüttelte langsam den Kopf. »Du wirst es schaffen, ich weiß es. Vertraue mir!«

      »Bist du der, der kommen wird?«

      »Ich bin der, der da ist.«

      In diesem Moment bemerkte Aly, dass das schwarze Lachen längst verstummt war. Sie sah sich um. Da waren keine Krähen auf dem Feld. Da lag kein Feuerbrausen in der Luft. Alles war still.

      »Das