Das Haus entpuppte sich als Familienpension. Den fehlenden Luxus ersetzte es durch Sauberkeit und eine urige Atmosphäre. So richtig eine Ecke zum Wohlfühlen.
Dabei war das Zentrum der Stadt keine fünfhundert Meter entfernt, der brodelnde Lärm drang bis in den Garten dieser unvermuteten Idylle.
Es bestand Meldepflicht. Wegen der Vorgänge in Südtirol.
Beim Unterschreiben der Meldekarte brachte sie das Kunststück fertig, mit ihrem Mädchennamen zu unterschreiben. Die Macht der Gewohnheit.
Die Brauen des leutseligen Pensionswirtes wanderten ausdrucksvoll in die Höhe, als er die verschieden lautenden Namen verglich. Er hielt sodann eine eindrucksvolle Rede, die sie nicht verstanden. Aber sie wussten, worum es ging.
Um das Doppelzimmer.
Verwirrt und verlegen kramte sie ihren nagelneuen Reisepass aus der Tasche. Der Wirt studierte die Eintragungen, eine mit Händen und Füßen geführte Unterhaltung setzte ein, und allmählich verstand der gute Mann, dass Hochzeitsreisende bei ihm abgestiegen waren.
Sein Gesicht begann zu glänzen wie der Vollmond. „Mama! Mama!“ Er schoss davon und rief im Haus unverständliche Worte.
Nacheinander tauchten in Türen und Fenstern freundliche Gesichter auf. Man nahm Anteil, man freute sich und zeigte es ungezwungen.
Die Matrone kam aus der Küche, wischte die Hände an der Schürze ab und schüttelte die Hände. Sie redete und lachte. Diese Leute hatten Gefühle und zeigten sie auch.
Ächzend schleppte der Wirt schließlich einen der Koffer in den ersten Stock und schloss das Zimmer auf. Der Raum war mindestens drei Meter hoch und besaß eine Miniaturveranda mit altem Eisengeländer. Trotz geöffneter Verandatür und sperrangelweit aufstehender Fenster war es kochend warm.
Einladend wies der Wirt zu seiner Veranda, trat durch die Tür, beugte sich übers Geländer und war schon mit dem Oberkörper im Blätterwerk eines Pfirsichbaumes verschwunden. Als er wieder zum Vorschein kam, präsentierte er vier herrliche Pfirsiche und überreichte sie ihr mit der Grandezza eines wahren italienischen Kavaliers.
„Per la bionda signora! Ah que bella!“
Er war ganz hingerissen und sie sehr geschmeichelt.
Der Winter der Pension und die emsige Mama brieten, brutzelten und sotten bis Mitternacht für die Gäste im Garten, wo man in fröhlicher Ausgelassenheit noch einige Zeit zusammenblieb.
Für sie war diese Verlagerung des geselligen Lebens in die Abend und Nachtstunden die Auffrischung einer als sehr angenehm empfundenen Erfahrung.
Nur verbarg sich hinter dem noch längeren Ausharren der italienischen Pensionsgäste im Garten eine ganz nüchterne Erklärung; schließlich hatten die Leute auch die größere Erfahrung.
Das waren die Schnaken!
Die Wassergräben am Seeausfluss, die Wasserflächen rings um die Kasematten der alten Festung und das streckenweise schilfbestandene Ufer waren ideales Vermehrungsgebiet für die Biester.
Kaum knipste Walter das Licht aus – sirrr, da stürzten sich die kleinen Aasgeier schon zu Dutzenden von der Decke.
Licht wieder an und es herrschte Ruhe.
Licht aus – der Angriff begann erneut.
Bei Licht konnten sie nicht schlafen, trotz der angenehmen Müdigkeit, die auf die Klimaveränderung und die andere Art des Lebens zurückzuführen war.
Walter drehte ein Handtuch zusammen und eröffnete die Abwehrschlacht gegen schätzungsweise fünfhundert Schnaken.
Es wurden immer mehr.
Schließlich begriffen sie, dass es besser war, die Verandatür zu schließen. Das Licht lockte die Plagegeister an.
Die Schnaken sahen ihr Heil darin, dem wedelnden Handtuch zu entwischen. Also setzten sie sich an die Decke. Drei Meter hoch.
Allmählich kam Walter in Rage. Er drehte das Handtuch noch mehr zusammen und warf es an die Decke. Leider entfaltete es sich unterwegs und kam nicht einmal bis nach oben. Ein paar Schnaken wurden vom Luftzug vertrieben. Das war der ganze Erfolg.
Plötzlich hielt er das Handtuch unter den Wasserhahn und machte es nass. Ausgewrungen und zusammen gedreht ließ es sich als solides Wurfgeschoss verwenden.
Er richtete in dieser Nacht ein Massaker unter den Schnaken an. Alle zwei, drei Minuten sauste das Handtuch an die Zimmerdecke und erschlug mit sattem Klatschen bis zu einem Dutzend Plagegeister.
Im Morgengrauen war die Schlacht entschieden, selig schlief Walter ein.
Was er nicht beachtet hatte, war die Hellhörigkeit der Pension. Jedenfalls gab es beim Frühstück ringsum fragende, verwirrte, verblüffte, auch ein paar grinsende Gesichter. Den Leuten war nicht verborgen geblieben, dass die seltsamen Geräusche die ganze Nacht über aus dem Zimmer der deutschen Hochzeitsreisenden kamen. Na ja, man zeigte Verständnis. Man besaß ja Phantasie. Doch was sich wirklich abgespielt hatte, ahnte wohl keiner der Gäste.
Hastig beluden Walter und Eva-Maria ihren Wagen und fuhren hinüber zum Ausrüstungskai.
Eine herbe Enttäuschung wartete auf Walter. Aus der Nähe gesehen, waren die stolzen Segler nur noch hässliche und lieblos zusammengenagelte Pötte. In den Rümpfen klafften Löcher. Nicht die Spuren einer Filmschlacht, denn hinter den Löchern schimmerte roter Rost.
Die Segler waren nichts anderes als Attrappen. Auf eiserne Lastkähne waren Segler aufbauten und Rümpfe gesetzt.
Von einem leidlich Deutsch sprechenden Fiatfahrer erfuhren sie, dass die Schiffe zum Abwracken hier vertäut lagen. Den Film hatte man schon in den Wintermonaten gedreht. Ohne den Touristenrummel an den Ufern und den Schlauchbooten, Luftmatratzen, Segelbooten und Motorflitzern auf dem See. Das Tragflächenboot von Riva nach Desenzano und Sirmione und retour hatte während der Dreharbeiten sogar den Verkehr eingestellt. Aber im Winter sei hier ohnehin nicht viel los.
Durch Pappelalleen fuhren sie weiter. Vorbei an traumhaften Villen, Bauernhäusern, versteckt in den Weinfeldern, aber mit Toreingängen an der Straße wie Renaissanceschlösser.
In Ferrara verfranzte sich Walter. Die Beschilderung war unter aller Kritik. Gereizt landeten sie schließlich vor einem alten Gemäuer, das sich „Da vecchia gitarra“ – Zur alten Gitarre – nannte. Im Schatten parkten Autos mit Kennzeichen aus Mailand und Rom. Wo weitgereiste Leute saßen, musste die Küche gut sein.
Sie stellten den Wagen in den Schatten und betraten die „Gitarre“.
Im ersten Moment glaubten sie, in ein Weinlager geraten zu sein. An den Wänden Regale voller Flaschen. Es gab jedoch auch Tische. Und es duftete verlockend.
Walter war großzügig und überließ dem Wirt die Zusammenstellung des Essens. Der Spaß riss ein großes Loch in die Urlaubskasse, dafür speisten sie aber in einem Lokal, das schon fast alle Größen der italienischen Kunstszene und der Politik als Gäste erlebt hatte. Die Bilder der Besucher hingen mit Widmung überall dort, wo die Flaschenregale Platz ließen.
Sie erfuhren bei dieser Gelegenheit auch noch, dass der Wirt eine Art Weinmuseum mit Ausschank unterhielt. Jede halbwegs ordentliche Weinlage des gesamten Landes war in den Regalen vertreten und durfte getrunken werden. Die Flasche ab zwanzig Mark aufwärts umgerechnet.
„Man heiratet so selten“, flachste Walter und bestellte eine Flasche.
Recht beschwingt verließen sie später das angenehm kühle Lokal, stiegen in den kochend heißen Wagen und verbrannten sich ums Haar die edleren Körperteile an den fast glühenden Kunststoffsitzen. Inzwischen war nämlich die Sonne weitergewandert und mit ihr auch der köstliche Schatten.
Unter dem