Ein Pfleger brachte Walter Becker in den Vorbereitungsraum. Er hatte sich Überschuhe anziehen müssen. Seine Augen drückten seine innere Unrast, die Sorge und Angst um seine Frau aus.
Dr. Winter zwang sich zu einem Lächeln.
„Auf gemütliche Sessel müssen wir leider verzichten. – Hm, Frau Becker, wir haben im linken Eierstock eine Geschwulst festgestellt, desgleichen in der Gebärmutter. Letztere bereitet uns wenig Kopfzerbrechen. Das Hauptproblem ist die Ausbildung im Eierstock. Wir sollten einen operativen Eingriff vornehmen, und ich frage Sie beide, ob Sie darin einwilligen. Meine ärztliche Pflicht gebietet mir, Sie darauf hinzuweisen, dass akute Lebensgefahr besteht ...“
Walter wurde totenbleich und hielt sich an der Griffstange des Rolltisches fest. In seinen Ohren rauschte und dröhnte es, ein barbarischer Druck machte sich hinter den Schläfen bemerkbar. Eva – seine Eva?
Ganz ausgeschlossen! Sie gehörte zu ihm, zu Tina. Eine lebensgefährliche Geschwulst das war ja geradezu lächerlich!
Oder doch nicht?
Eva-Maria lag mit zurückgebeugtem Kopf. Die Worte plätscherten an ihr vorbei.
Geschwulst – nur ein Wort! Ich hab’s gewusst, dass es Krebs ist! Warum sonst wollen sie gleich operieren?
Dieser Doktor belügt mich jawohl! Krebs ist es. Das sage ich ihm ins Gesicht!
Langsam hob sie den Kopf und starrte den Frauenarzt in der grünen OP-Tracht an.
„... wenn der Eingriff nicht sofort vorgenommen wird“, redete Dr. Winter weiter, kühl, sachlich und gewinnend wie immer. „Herr Becker, Ihre Frau mag zwar Aussichten haben, ohne Eingriff über die nächsten vier oder fünf Tage zu kommen, aber dann ist jede ärztliche Hilfe verlorene Mühe. Mit einem Eingriff hat sie die besten Aussichten, hundert Jahre alt zu werden.“
„Also ist es doch Krebs, nicht wahr?“ Die Patientin richtete sich auf. „Es ist doch Krebs! Sagen Sie mir die Wahrheit!“ Ihre Stimme wurde lauter und lauter, Tränen rannen übers Gesicht.
Dr. Florian Winter atmete tief ein. Da wurde ihm wieder die Schicksalsfrage gestellt – Krebs oder nicht! Und er befand sich in der Rolle des Schicksalsboten.
Es war ein geringer Trost, dass dieser Bote das Skalpell in der Hand hielt und ihm die Macht gegeben war, den Spruch des Schicksals anders lauten zu lassen.
„Ja“, sagte er, „es handelt sich um Tumoren, deren Natur uns unbekannt ist. Ob gut- oder bösartig, das erbringt erst die Operation. Wenn Sie Ihre Einwilligung geben, werden Sie keine Kinder mehr haben können.“
In Gedanken fügte er hinzu: Ohne Einwilligung und Operation auch nicht! Dann ist dieses Leben in wenigen Tagen erloschen!
Keuchend sagte Walter Becker: „Sie lassen uns keine Alternative!“
„Die Natur lässt Ihnen keine. – Wenn Sie sich besprechen wollen?“ Diskret zog er sich zurück.
Eva-Maria weinte hemmungslos. „Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst!“ Sie hielt Walters Hände fest.
Er schluckte. Ihr Elend drückte ihm fast das Herz ab.
Nur keine Schwäche zeigen!, hämmerte es in seinem Kopf. Möble sie noch mal auf! Klang ja gar nicht so aussichtslos, was dieser Winter geredet hat! Die Operation ist nicht zu umgehen!
„Schatz, nicht verzweifeln, bitte!“ Er machte ungeschickte Tröstungsversuche. „Hundert Jahre alt kannst du werden, hat er gesagt. Und noch ein Kind wollten wir nicht.“ Er setzte sich auf den Tisch, ganz nah zu ihr. „Solche Operationen machen sie hier hundertmal im Jahr und öfter. Ich wette, die Frauen spazieren allesamt munter draußen herum. Wir können Hermann fragen, damit wir das auch ganz sicher wissen. Dieser Doktor Winter erweckt Vertrauen. Warum soll er auf der einen Seite zugeben, dass es womöglich Krebs ist, und uns auf der anderen belügen und einen Heilerfolg in Aussicht stellen, wenn das gar nicht zutreffen kann? Was meinst du denn?“
Betulich strich er ihr Haare aus dem Gesicht und legte die Hand auf ihre Wange mit den roten Flecken.
„Er kann uns nichts garantieren.“ Eva-Maria drehte den Kopf zur Seite und klemmte seine Hand fest Die Berührung tat ihr wohl, er merkte das.
„Wie ein Anfänger sieht er nicht aus. Wenn er sagt, dass du reelle Chancen hast, dann glaube ich ihm. – Da kommt er wieder. Bitte, mein Schatz, was sollen wir ihm sagen?“ Hinter Doktor Winter segelte Hermann Mittler her.
„Na, ihr zwei Hübschen sorgt ja für einen netten Wirbel“, meinte er aufgekratzt. „Ich denke, wir gießen hinterher einen auf die Lampe und stellen schon die Flasche kalt und jetzt? Trinken wir sie eben zusammen, wenn du die ersten Hüpfer vor dem Bett machst, Evi.“
„Hermann!“ Eva-Marias Blicke brannten in Dr. Mittlers Gesicht.
Verwundert zog Dr. Winter die Brauen hoch. Das waren ja Töne, wie er sie noch nie vernommen hatte! Und sein Stationsarzt blickte vorsichtig wie ein Hase, wenn es donnert! Gar so platonisch schien die Affäre nicht zu sein. Eher eine verdrängte Liebe.
Jedenfalls aber besaß die Patientin einen starken Willen, und den zwängte sie seinem Stationsarzt auf.
„Hermann, welche Chancen habe ich? Keine Ausflüchte, keine Lügen!“
„Mehr, als Flöhe in einen Sack gehen. Wärst du doch nur alle neun, zehn Monate zu einer Untersuchung gegangen, dann hättest du dir diesen unfreiwilligen Krankenhausaufenthalt ersparen können, Evi.“
„Warum gerade ich, Hermann?“
„Diese Frage stellt sich jeder, der betroffen ist, und über der Suche nach einer Antwort verzweifelt er fast. Niemand kann dir eine vernünftige Antwort geben.“
„Angenommen, der Tumor ist gutartig, was ...?“
„Dann entfernen wir die Tumoren, und du bist fast wieder wie neu.“
„Und wenn er bösartig ist?“
„Muss er ebenfalls heraus. Zusammen mit dem umliegenden Gewebe. Das erfordert ein paar Nähte, aber wir haben einen prima Schneider im OP. Und sehen tut es hinterher doch niemand.“
Seine schnodderig-spaßige Art zauberte den Hauch eines Lächelns auf ihr Gesicht. Für einen Augenblick.
„Und warum keine Kinder mehr, Hermann?“
„Ob gut oder bösartig, wir müssen in jedem Fall den linken Eierstock, den dazugehörigen Eileiter und die Gebärmutter herausnehmen. Oder wäre es dir lieber, in einem halben Jahr wieder hier zu liegen? Na siehst du, ich wusste, dass du ein vernünftiges Mädchen bist. Und weil wir in diesem Fall einige organische Einrichtungen entfernen müssen, die die Frau vor dem Mann auszeichnen, wird es mit Kindern nicht mehr klappen.“ Und leise und spitzbübisch-frivol fügte er hinzu: „Aber sonst alles nach Wunsch. Nach einer angemessenen Schonzeit natürlich.“
Dr. Winter bemühte sich, an diesem Dialog vorbeizuhören. Andererseits stellte er an seinem Stationsarzt eine völlig neue Seite fest, die gar nicht unangenehm war. Wie dieser Mensch mit der Patientin umsprang und sie ruhig bekam –kaum zu glauben!
Da sieht man halt wieder, was so eine langjährige Freundschaft ausrichtet, dachte er. Die hält – bis in den OP und darüber hinaus!
In der Tür zum OP tauchte Schwester Manka auf. Hinter ihr drängten sich Gesichter unter grünen Kappen, Mund und Nase hinter grünem Tuch verborgen.
„Das Team sammelt sich“, sagte Dr. Mittler. „Evi, nur keine Angst, ich stehe nicht weiter als einen Meter vom Tisch weg.“
Er bewegte sich aus ihrem Gesichtskreis.
Eva-Maria