„Der Lagerplatz der Banditen?“ fragte Don Juan.
„Ja, hier müssen sie gestern gelauert haben“, erwiderte Hasard.
„Hier sind Hufspuren“, meldete Dan. „Aber nur ganz schwache.“
„Zeichen, die die Soldaten der Garde gestern abend sicherlich übersehen haben“, meinte der Seewolf.
„Und wahrscheinlich haben sie auch keine große Lust verspürt, den Sarden bis in die verwunschene Burg zu folgen“, sagte Big Old Shane.
„Egal“, sagte Hasard. „Dan, kannst du Abdrücke sehen, die weiter in den Wald führen?“
Dan O’Flynn war ebenfalls abgesessen. Er kniete sich hin und kniff die Augen zusammen.
„Der Boden ist hart“, erklärte er. „Ich glaube, wir verlieren Zeit, wenn wir versuchen, uns nach den Spuren zu orientieren.“
Der Seewolf stieg wieder auf sein Pferd. „Das hat keinen Sinn. Wir gehen anders vor – so, wie wir beratschlagt haben.“
So ritten sie weiter. Nach Osten. Hasard hatte die Beschreibung, die Kemil Haydar ihm gegeben hatte, im Kopf. Nach gut einer Dreiviertelstunde hielt er auf der Kuppe eines Hügels an. Hier, von einem kleinen Kahlschlag aus, konnte man das graue Bergmassiv sehen, das sich im Osten erhob.
„Dort liegt unser Ziel“, sagte der Seewolf.
„Die Felsen sehen sehr einladend aus“, sagte Don Juan.
„Was hast du denn erwartet?“ brummte der Profos. „Bei allen Flüchen, die auf der Scheitans-Burg liegen, müssen wir wohl aufpassen, daß wir nicht von Hexen und Dämonen totgetrampelt werden.“
„Weiter“, drängte Hasard. „Wir haben noch einige Meilen vor uns.“
Um die Mittagsstunde waren sie den Bergen sehr nah. Sie befanden sich jetzt in einer höheren Region, in der es keine Ölbäume mehr gab. Dafür hatte der Bestand an Pinien, Krüppelkiefern und Zypressen zugenommen.
Hasard führte seine Männer auf einen turmähnlichen Berg zu. Am Rand der Schlucht, die sich südlich des Berges wie ein Krater öffnete, sollte nach den Schilderungen von Kemil Haydar das Dorf Dodullu zu finden sein.
„Da bin ich mal gespannt“, sagte Carberry. „Aber eine Kneipe gibt es dort bestimmt nicht.“
„Mister Carberry“, sagte Ferris, „hast du irgendwo im Orient schon mal eine richtige Kneipe gesehen?“
„Nein, leider.“
„Dann laß die dummen Witze.“
Der Profos grinste den rothaarigen Riesen so freundlich an wie ein hungriger Wolf. „Halt schon mal deine Höllenflaschen bereit, Mister Tucker.“
„Noch ist kein Feind in Sicht“, entgegnete Ferris.
„Wer sagt dir, daß in Dodullu nicht die Sarden lauern?“
„Das würde uns die Sache erleichtern“, meinte Dan.
„Achtung“, sagte Philip junior. „Plymmie hat wieder etwas gewittert.“
Tatsächlich – Plymmie schnüffelte auf dem felsigen Untergrund herum, als habe sie eine Fährte aufgenommen. Plötzlich lief sie los und verschwand in einem dichten Piniengehölz.
„Hinterher!“ stieß Hasard aus. Er trieb seinen Falben an und heftete sich in gestrecktem Galopp der Hündin an die Fersen. Die Zwillinge hielten sich dicht hinter ihm. Es folgten Carberry, Dan, Ferris, Shane, Don Juan und der Rest des Trupps.
Als der Seewolf in das Gehölz eindrang, hatte der Plymmie aus den Augen verloren. Verflixt und zugenäht, dachte er. Ihm schwante nichts Gutes. Aber dann sah er die Hündin.
Plymmie stand zwischen den Bäumen. Wie erstarrt. Ihr Nackenhaar sträubte sich, ihr Schwanz war eine buschige Rute. Hasard wußte genau, was das zu bedeuten hatte.
Plymmie hatte jemanden entdeckt. Kein Tier – einen Menschen. Einen Mann, der mit dem Rücken gegen eine Pinie gelehnt dastand. Die Hündin knurrte ihn an und fletschte die Zähne. Der Mann hob ein krummes Messer. Wer war er? Einer der Banditen, ein Kerl der Porceddu-Meute?
7.
Der Seewolf zügelte den Falben. Er lenkte das Tier dicht hinter Plymmie und sah sich den Fremden genauer an. Der entpuppte sich als hagerer Mensch, um die fünfzig Jahre alt, mit einem zottigen Bart und ganz in Lumpen gekleidet. Er zitterte. In seinen Augen flackerte Angst – nackte Angst.
„Plymmie“, sagte Hasard.
Jetzt trafen auch die Zwillinge ein. Sie saßen ab und hielten die Hündin fest. Philip junior sprach den Fremden auf türkisch an. Er erklärte ihm, daß er keine Angst zu haben brauchte.
Der Fremde stieß nur unverständliche, gutturale Laute aus. Allem Anschein nach verstand er kein Wort.
Nun waren auch die anderen Mannen zur Stelle. Don Juan brachte sein Pferd neben Hasards Falben.
„Versteht der Mann die türkische Sprache nicht?“ fragte er.
„Offenbar nicht“, entgegnete Philip junior.
„Das ist merkwürdig“, sagte Carberry.
„Vielleicht spricht er Dialekt“, meinte Shane.
Philip junior versuchte noch einmal sein Glück. Wieder ohne Erfolg. Der Fremde rollte mit den Augen, stotterte und lallte.
„Der kann gar nicht richtig sprechen“, sagte der Profos. „Das ist ein Waldschrat.“
„Oder der Hexer von Dodullu“, fügte Ferris Tucker grinsend hinzu.
„Der Mann ist taubstumm“, sagte der Seewolf. Er trat dicht vor den Fremden hin und lächelte ihm aufmunternd zu. Der Mann nickte hastig und steckte das Messer weg. Hasard deutete mit dem Zeigefinger erst auf seinen Mund, dann auf das rechte Ohr.
„Nichts?“ fragte er.
Der Fremde stieß einen grunzenden Laut aus, der wie eine Bestätigung klang.
„Armer Teufel“, sagte Philip junior. „Aber wir können uns durch Zeichensprache mit ihm verständigen.“
Der Seewolf probierte es. Durch Gesten und Gebärden gab er dem Fremden zu verstehen, daß er von ihm wissen wollte, wer er sei. Der Fremde fuchtelte mit den Händen vor Hasards Gesicht und stieß wieder die gutturalen Laute aus.
„Er ist ein Waldläufer, Dad“, sagte Hasard junior. „Soviel habe ich begriffen.“
„Ja“, sagte sein Vater. „Also ein Jäger und Fallensteller, der im Freien lebt.“ Wieder gestikulierte er.
Tatsächlich gelang es dem Seewolf, sich sozusagen „mit Händen und Füßen“ mit dem Fremden zu unterhalten. Der Mann lebte allein in einer Höhle. Er mied die Nähe von anderen Menschen und wagte sich weder nach Dodullu noch zur Burg des Scheitans.
Wo das Dorf war, konnte er beschreiben. Seine Erklärungen deckten sich mit den Schilderungen von Kemil Haydar. Wo die Arwenacks allerdings die Burg zu suchen hatten, konnte er nicht ausdrücken.
Ja, die sardischen Banditen hatte der Waldläufer hin und wieder schon mal gesehen. Er hatte Angst vor ihnen. Er versteckte sich. Nie war es ihnen gelungen, ihn aufzustöbern – auch ihren Hunden nicht.
„Aha, sie haben also Hunde“, sagte Don Juan. „Es ist gut, das zu wissen.“
Nur Plymmie mit ihrer ausgezeichneten Nase war auf den Waldläufer gestoßen. Er hatte versucht, Reißaus zu nehmen, aber sie hatte ihn gestellt. In seiner Angst hatte er das Messer gezückt. Doch er gab zu, daß er es mit der Hündin nicht hätte aufnehmen können.
Mit viel grotesken Gebärden schilderte der Waldläufer den Arwenacks, daß er am Vortag eine haarsträubende Szene beobachtet