Sie würden kämpfen müssen.
„Wie viele Soldaten sind krank?“ fragte er.
„Dreißig, sagte der weiße Medizinmann“, erwiderte Taliwa.
In Shawanos dunklen Augen blitzte es auf. Das waren mehr, als er erwartet hatte. Er würde an die siebzig Krieger aufbieten können. Damit waren sie in der Überzahl. Wenn sie listig und schnell wie die Schlangen angriffen, dann würde sich die Zahl der Soldaten noch einmal zu ihren Gunsten vermindern. Dann fielen auch ihre Feuerrohre nicht mehr ins Gewicht, ohne die sie schwächer als die Timucuas waren.
Und da war noch etwas, das Shawano günstig erschien. Da waren einige Spanier, die sich den geknechteten Timucuas gegenüber nicht feindlich gezeigt hatten. Sie waren freundlich gewesen und hatten nicht die Peitsche benutzt. Sogar Brot und andere Nahrung hatten sie den hungernden Timucuas heimlich zugeschoben. Shawano hatte den Eindruck gewonnen, daß sie ihren herrischen und grausamen Häuptling haßten oder verachteten. Sicher, sie waren in der Minderheit, aber es gab sie. Und sie würden sich vielleicht nicht wehren wollen, weil sie wußten, daß der Kampf der Timucuas eine gerechte Sache war.
Shawano nickte vor sich hin und sagte: „Danke, meine Tochter. Der weiße Teufel wird dich suchen, aber du wirst nicht mehr zu ihm zurückkehren, sondern dich hier verstecken. Du kennst die verborgene Erdhöhle bei der letzten Hütte. Verberge dich dort. Heute nacht wird sich alles verändern – dank deiner Hilfe.“
Taliwa erhob sich und verließ lautlos die Hütte. Später ging Shawano durch das Dorf, ruhig und gelassen wie immer. Er betrat die eine oder andere Hütte, wie er das in letzter Zeit immer getan hatte, seit das Sumpffieber wütete. Die vier spanischen Posten, die um das Dorf herum verteilt standen, beachteten ihn nicht weiter. Sie dachten, er schaue nach den Kranken.
Das tat er auch, aber dabei informierte er die alten Männer, die nicht zur Arbeit herangezogen worden waren, über den Plan, den er zum Überfall auf die spanische Siedlung entworfen hatte. Die alten Männer würden den Plan an die Krieger weitergeben, wenn sie am Abend von ihrer Fronarbeit ins Dorf zurückkehrten.
Es war, als ginge ein Aufatmen durch das Dorf.
Endlich! Endlich würde man das Joch abschütteln und wieder frei sein. Ja, es würde Opfer kosten, aber es war ihre letzte Chance, einem grausamen Schicksal zu entgehen.
Shawano hatte alles bedacht und geplant. Und sie waren mit seinem Plan einverstanden.
Der Mond stand in dieser Nacht nur als schmale Sichel am Himmel und spendete kein Licht. Nach Mitternacht stiegen von den Sümpfen Nebelschwaden auf und zogen über das Dorf und die Siedlung. Die schmale Mondsichel und die Nebelschwaden wurden zu Verbündeten der Timucuas – auch daran hatte Shawano gedacht.
Gleichfalls hatte er in den beiden ersten Stunden des neuen Tages oft genug beobachtet, wie die Wachtposten vom Schlafbedürfnis gepackt wurden und zum Teil sogar zeitweise einschliefen. Auch das spielte in seinem Plan eine Rolle.
So geschah es, daß etwa eine Stunde nach Mitternacht alle vier Posten, die um das Dorf herum verteilt waren, jäh und plötzlich überrumpelt wurden. Kaum war der Schrei eines Nachtvogels verklungen – den Shawano ausgestoßen hatte –, da wuchsen unmittelbar bei den vier Posten je zwei Krieger aus dem Boden oder tauchten aus den Schwaden wie Gespenster auf. Und bevor die Posten noch reagieren konnten, wurden sie umgerissen. Sekunden später lebten sie nicht mehr und verschwanden für immer im benachbarten Sumpf.
Der erste Schritt in die Freiheit war getan.
Wiederum eine Viertelstunde später ertönte der Schrei des Nachtvogels zum zweiten Male. Als er zu Ende war, überkletterten siebzig Krieger die Palisaden rund um die Siedlung, zum Teil hangelten sie an Pflanzenseilen hoch, deren Schlingen sie über die Spitzen der Palisaden geworfen hatten, zum Teil überwanden sie die Umzäunung mit Bambusleitern, die Shawano, wie die Pflanzenseile, von den Frauen und Mädchen in den ganzen letzten Stunden hatte herstellen und knüpfen lassen.
Eine Gruppe dieser Krieger, die in der Nähe des Tores zum Timucua-Dorf die Palisaden überwand und zu den Quartieren der Soldaten huschte, wurde von den Posten am Tor gesehen. Sie schossen sofort und alarmierten mit ihrem Brüllen die Siedlung.
Das Moment der Überraschung war nicht ganz gelungen, aber es irritierte die Timucuas nicht. Sie brauchten nicht mehr vorsichtig zu sein, und jetzt stürmten sie mit gellenden Schreien in die Hütten und Quartiere.
Der Kampf Mann gegen Mann begann, und er wurde von seiten der indianischen Krieger mit gnadenloser Härte geführt. Zu lange hatten sie Schimpf und Schmach und Demütigungen erduldet, zu häufig waren sie ausgepeitscht, getreten und geschunden worden. Jetzt schlugen sie zurück, und sie dachten dabei an den teuflischen Plan des Kommandanten, von dem Taliwa berichtete hatte. Der spanische Terror wurde beantwortet.
Don Angelo Baquillo gelang es nicht mehr, seine Truppe zum Gegenangriff zu formieren. Der Feind war in das spanische Lager eingedrungen, das Stabsquartier war innerhalb weniger Minuten von den anderen Gebäuden und Hütten abgeschnitten – und niemand hörte mehr auf das, was der Kommandant brüllte.
Und während die Soldaten einzeln und verzweifelt um ihr Leben kämpften, setzte sich der Kommandant mit seinem Stab heimlich ab. Das schafften sie, weil sich die beiden Posten vor dem Stabsgebäude erbittert zur Wehr setzten. Don Angelo Baquillo hatte ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen und von innen verriegelt, als er erkannte, daß etwa zwölf Krieger auf das Stabsgebäude zustürmten. Jetzt dienten ihm die beiden Posten als Puffer, während er mit seinem Stab hinter dem Gebäude durch ein Fenster die Flucht ergriff. Weil sich kein Krieger mehr bei den Palisaden befand, war dort der Weg frei. Der Kommandant und sein Stab retteten sich in die Sümpfe.
Dafür starben diese beiden Soldaten, die lange und tapfer kämpften, und zwar mit der Erbitterung der Enttäuschten, weil ihnen der Kommandant den Rückzug in das Stabsgebäude verriegelt hatte. Sie starben mit Flüchen auf den Lippen, die Don Angelo Baquillo galten. Dabei war das Stabsgebäude wie eine Festung ausgebaut worden. Es hätte von etwa zehn entschlossenen Männern durchaus verteidigt werden können.
Anders war das bei den Hütten und Quartieren. Deren Türen, so sie noch rechtzeitig verriegelt worden waren, zerbarsten wie Zunder, wenn sich nur ein Krieger dagegenwarf.
Der Mann, der sich mit soviel Zivilcourage dem Kommandanten widersetzt hatte – der Feldscher –, starb einen schnellen Tod, und zu spät erkannte der Krieger, dem er im Krankenrevier schlaftrunken und völlig übermüdet entgegentaumelte, daß dies einer der Spanier war, von denen Shawano gesagt hatte, man möge sie schonen.
Im Taumeln des Feldschers hatte der Krieger eine Angriffsabsicht gesehen und mit der Keule zugeschlagen. Dieser Krieger selbst war kurz darauf in den Degen eines Soldaten gerannt. Der Tod kümmerte sich nicht um Gerechte oder Ungerechte, um Gute oder Böse, um Christen oder Andersgläubige.
Etwa zwanzig Krieger überlebten den Angriff auf die spanische Siedlung nicht.
Fünf Spanier ergaben sich rechtzeitig, und es waren jene, von denen – außer dem Feldscher – der Häuptling gesagt hatte, man möge genau darauf achten, ob sie den Kampf aufnehmen wollten. Sie blieben also am Leben, weil sie der Häuptling schonen wollte, jedoch damit noch eine andere Absicht verfolgte.
Und am Leben blieben Don Angelo Baquillo sowie sein Stab, wie Shawaho erbittert feststellte, als er jeden einzelnen Toten in Augenschein nahm. Nur den Kommandanten entdeckte er nicht, aber das geöffnete Fenster im Hintertrakt des Stabsgebäudes und die verriegelte Tür in der Vorderfront, wo die Leichen der beiden Posten lagen. Er konnte Spuren lesen und daraus erkennen, was geschehen war.
Darum drängte er zur Eile, als die Siedlung in der Hand der Timucuas war.
Es hieß Abschied nehmen, und da spielten sich noch einmal Szenen ab, die neue Furchen und Runen in das zersorgte Gesicht Shawanos gruben. Es wurde zu einer Ruinenlandschaft, zu dem Gesicht eines Mannes, der Opfer brachte, um das Leben seines Stammes zu erhalten.
Denn die schwer an dem unheimlichen Fieber Erkrankten seines Stammes – die Sterbenden – hatten nach den ungeschriebenen Gesetzen des Stammes