Der junge Mann mit Down-Syndrom, der im Verwaltungsgebäude arbeitete und mit dem Beau jeden Tag ein paar Worte gewechselt hatte, war gekommen. Die Familie des Typen war gekommen, dem Beau und ich jeden Sommer fasziniert zugesehen hatten, wenn er beim Gewerkschaftspicknick der Asbestarbeiter eine lebendige Grille verschluckte. (Ich weiß bis heute nicht, warum er das tat.) Da waren die Leute, mit denen Beau sich angefreundet hatte, als er mich zu den AA-Meetings begleitete. Sie kamen, weil sie Beau verbunden waren, nicht weil er mein Bruder war.
Beinahe jeder, der sich leise schniefend in dieser Schlange voranschob, wollte eine persönliche Geschichte erzählen oder Wünsche überbringen.
Am meisten rührten mich die Worte derjenigen, die ich zwar erkannte, aber nicht einordnen konnte. Sie erzählten, wie sich die Wege unserer Familien auf so unwahrscheinliche und bewegende Weise gekreuzt hatten, und oftmals stand im Zentrum dieser Geschichten mein Vater.
Ein Mann erzählte mir, dass Dad ihn einmal mitgenommen hatte, als er mitten in der Nacht mit leerem Tank auf einem Seitenstreifen stand. Eine Frau erinnerte sich daran, dass Dad sie nach einem Todesfall in der Familie angerufen hatte, einfach um sein Beileid auszusprechen. Sie wollte sich für seine Aufmerksamkeit revanchieren. Ein Ehepaar war noch immer gerührt von dem Gespräch, das Dad mit ihnen geführt hatte, nachdem sie ihren Sohn bei einem Autounfall verloren hatten, bei dem Alkohol im Spiel gewesen war, und sie erzählten, dass ihnen seine Worte von damals noch immer Hoffnung gaben und die Kraft schenkten, weiterzuleben.
Die Emotionalität dieser Gespräche festigte erneut die einzigartige Verbindung, die entstanden war, als die Öffentlichkeit von dem tragischen Tod meiner Mutter und meiner Schwester erfuhr. Die Folgen dieses Unfalls waren damals in ganz Delaware zu spüren gewesen. Republikaner, Demokraten – alle waren betroffen. Die Einwohner des kleinen Bundesstaates nahmen Anteil und setzten ihre ganze Hoffnung auf einen schneidigen jungen Witwer, der zwei Kleinkinder zu versorgen hatte. Der ganze Staat war stolz, dass es ihm gelang, uns durchzubringen. Beau und ich waren die Cousins, Neffen oder Adoptivkinder jedes einzelnen Bürgers.
Beaus früher Tod, in einem Alter, in dem er sein immenses Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft hatte, war ein weiterer Aufruf, sich um uns zu scharen und uns, jeder nach seiner Art, Trost zu spenden.
Ich kann die Gebetszettel und Anhänger nicht zählen, die mir in diesen Tagen in die Hand gedrückt wurden, jeweils mit einer Erklärung oder einer Anweisung. Eine ältere Frau schenkte mir ein Medaillon des heiligen Bartholomäus, der, so erklärte sie, der Schutzpatron all jener sei, die in die Fußstapfen eines anderen zu treten hätten. »Sie müssen das Leben Ihres Bruders fortführen«, sagte sie, und ihr Händedruck wurde fester. Es war ein immer wiederkehrendes Thema. (Später erfuhr ich, dass Bartholomäus auch der Schutzheilige der Schlachter, Buchbinder, Gerber, Sattler und Nervenkranken ist.)
Dann waren da noch die Familien, die uns erzählten, wie Beau sie unterstützt hatte, als er Sexualverbrechen verfolgte, eines seiner Hauptanliegen während seiner achtjährigen Amtszeit als Generalstaatsanwalt von Delaware. Dieser Schwerpunkt wurde besonders deutlich in dem Fall des Kinderschänders Earl Brian Bradley, eines Kinderarztes, der über einhundert Kinder missbraucht hatte, darunter ein drei Monate altes Baby. Beaus persönliches Engagement in diesem Verfahren war einer der Gründe dafür, dass er sich 2010 gegen eine Kandidatur für den ehemaligen Senatssitz unseres Vaters entschied. Er war entschlossen, Bradleys Strafverfolgung in letztendlich mehr als fünfhundert Anklagepunkten zu Ende zu führen.
Am 23. Juni 2011 wurde Bradley in allen Fällen für schuldig befunden, er wurde zu vierzehnmal lebenslänglich verurteilt – plus weitere hundertvierundsechzig Jahre – ohne Bewährungsmöglichkeit.
Doch Beaus Einfluss in diesem Bereich war größer als die Arbeit am Gericht. Ein alter Freund von uns, ein hartgesottener Gewerkschaftler, Mitte vierzig, kam zu mir und sagte: »Dein Bruder ist dafür verantwortlich, dass ich die Möglichkeit sah, mich nicht umzubringen.«
Vorsichtig fragte ich ihn, was denn passiert sei. Er sah mich fassungslos an, er war überzeugt gewesen, dass Beau mit mir über seinen Fall gesprochen hätte. Dann berichtete er mir, wie er fünfunddreißig Jahre zuvor immer wieder von einem Priester missbraucht worden war. Der Priester war längst tot, aber Beau war der einzige Mensch, dem er es je erzählt hatte. Dieser Mann wusste, was jeder, der Beau je etwas anvertraut hatte, ebenfalls wusste: Dass Beau niemals voreingenommen war, auch wenn man ihm gegenüber seine tiefsten, dunkelsten Geheimnisse preisgab.
Mit all diesen Menschen zu reden, die sich angestellt hatten, um zu kondolieren, machte mir und meiner Familie in dieser schrecklichen Zeit unglaublichen Mut. Eins wurde mir klar: Falls je die Frage im Raum gestanden hatte, was ein gut geführtes Leben bewirken könne, dann wurde sie von der Menschenmenge, die in jenen zwei Tagen an Beaus aufgebahrtem Sarg vorbeizogen, laut und deutlich beantwortet.
Unsere Familie tat, was sie in politischen wie in persönlichen Krisen immer tut: Jeder leistete seinen Beitrag.
Dad und ich kümmerten uns um verschiedene Aspekte der Planung, wir entschieden, wer die Trauerreden halten sollte und wann die Anrufe der Würdenträger entgegengenommen würden. Dad saß stundenlang auf seiner Veranda und telefonierte mit amtierenden und ehemaligen Staatsführerinnen und Staatsführern aus allen Teilen der Welt. Alle waren ihm zugetan, sie zeigten nicht nur Respekt, sondern tatsächlich wahre Zuneigung. So wurde aus jeder Beileidsbekundung ein echtes Gespräch. Sie erzählten, wie »Sie Beau und Hunter nach Berlin mitgebracht haben« und wie »beeindruckt ich war, als Beau damals, als er schon Generalstaatsanwalt war, zu uns nach Rumänien kam und über Korruption sprach«, und »Vielleicht erinnern Sie sich nicht, aber als damals meine Nichte starb, waren Sie für mich und meine Familie da«.
Die meiste Zeit verbrachte ich in Beaus Haus in Wilmington, kaum eine Meile von Dad entfernt. Ich las Trauerkarten, empfing Besuche und begrüßte Freunde, die gekommen waren, um Hallie und die Kinder zu sehen.
Wir waren derart überwältigt und in Anspruch genommen, dass Dad und ich nicht die Zeit fanden, ein wirklich vertrauliches Gespräch miteinander zu führen. Wir erzählten uns nie, wie es uns bei all dem ging. Wir weinten beide sehr viel – Dad hatte beinahe nach jedem Gespräch auf der Veranda Tränen in den Augen. Manchmal umarmten wir uns einfach nur schweigend, so als wollten wir uns gegenseitig stützen. Wir wussten, dass wir weiter nichts füreinander tun konnten, dass dem Schmerz mit Worten nicht beizukommen war. Zu sprechen schien beinahe gefährlich. Wir hatten eine Höllenangst, wie sich Beaus Tod auf den jeweils anderen auswirken würde.
In gewisser Weise fürchteten wir beide den vollständigen Zusammenbruch.
Inmitten all dieser Vorgänge arbeitete ich an meiner Trauerrede für Beau. Die Vorstellung, etwas sagen zu müssen, gab den Gefühlen, die auf mich einfluteten, eine zusätzliche Resonanz, und der Gedanke, dass ich sie vor einem solch großen, vielfältigen Publikum halten sollte, verschärfte den Schmerz über unseren Verlust.
Doch sobald ich mich an den Schreibtisch setzte, waren meine Bedenken wie weggeblasen. Trotz der Ungeheuerlichkeit dieser öffentlichen Rede begriff ich, dass ich sie nur für einen Zuhörer vorbereiten musste: meinen Bruder. Klar, er wäre mit allem einverstanden, was ich zu sagen hatte – denn so war er schließlich. Also konnte ich einfach Abschnitt für Abschnitt schreiben und ihm dann vorlesen. Wir arbeiteten sie gemeinsam aus, und gemeinsam fügten wir die Abschnitte zusammen und gaben ihnen den letzten Schliff – so zumindest fühlte es sich an. Ich staunte, wie leicht es mir von der Hand ging.
Ich wählte einige Meilensteine in unserem Leben aus, und ich begann dort, wo ich immer begann: wie ich neben ihm im Krankenhaus aufgewacht war. Alle sollten verstehen, wie unfassbar tief wir verbunden waren, und zugleich wollte ich der Tatsache gerecht werden, dass auch viele andere Menschen eine wahrhaft innige Verbindung zu ihm verspürten. Die persönlichen Reaktionen, die wir in dieser Woche erhalten hatten, machten dies mehr als deutlich.
Diese Trauerrede