Die Ärzte erklärten, dass keine Aussicht auf Genesung mehr bestand, und Beaus Tracheostomiekanüle wurde entfernt. Das Warten begann.
Die Zeit glitt vorüber. Beau rührte sich nicht. Ich redete immer weiter. Ich sagte ihm, er könne jetzt loslassen. Ich sagte ihm, dass für seine Kinder, Natalie, die bald elf wurde, und für den neunjährigen Hunter gesorgt sei, die ganze Biden-Verwandtschaft würde sich um sie kümmern, so wie sie sich auch um uns gekümmert hatte, als Mommy und Caspy uns damals verlassen hatten.
Dad würde es auch durchstehen, sagte ich.
»Er ist so unerschütterlich, Beau«, erklärte ich. »Er weiß, dass er für uns alle Stärke zeigen muss.«
Ich versprach ihm, selbst auch meine ganze Willenskraft aufzubringen. Er war mit mir zu meinen ersten AA-Meetings gegangen, den Treffen der Anonymen Alkoholiker, hatte meinen ersten Sponsor gefunden und mich oft genug in die Entziehungskur begleitet, dass er wusste, wie schwierig es für mich war. Ich versprach ihm, nüchtern zu bleiben. Ich versprach ihm, mich um die Familie zu kümmern, wie er es immer getan hatte. Ich versprach ihm, glücklich zu sein und das Leben in Schönheit zu führen, das wir uns zusammen ausgemalt hatten.
Ich hatte damals keine Ahnung, in wie viele Sackgassen ich geraten sollte, bis ich meine Versprechungen tatsächlich einhielt.
Die vierundzwanzig Bidens liefen noch immer durch die Korridore. Einige waren nach Hause gefahren, um zu duschen, sich umzuziehen oder kurz zu schlafen, aber sie waren nie lange fort. Andere schauten im Zimmer vorbei, sagten ihm, was sie zu sagen hatten, sprachen mit den Ärzten und Pflegern und Mitarbeitern – es müssen im Ganzen ein Dutzend Leute gewesen sein, die uns die gesamte Zeit so freundlich beigestanden hatten.
Beau atmete kaum merklich. Ich hielt seine Hand.
Tante Val und Onkel Jim, die Geschwister meines Vaters, die Beau und mich nach dem tödlichen Autounfall mehr oder weniger eigenhändig großgezogen hatten, kamen und wollten mich hinausschicken, um frische Luft zu schnappen, einen kurzen Spaziergang zu machen. Ich lehnte ab. Ich wollte bei meinem Bruder sein, sonst nirgends.
Schließlich, beinahe anderthalb Tage nachdem die Ärzte Beau nur noch Stunden gegeben hatten, bestand Dad darauf, dass ich mit meinem Schwager Howard gehen solle, um Pizza zu holen. Die Bidens hätten Hunger. Ich hatte Angst vor dem, was geschehen konnte, ging aber trotzdem. Nach zehn Minuten, als wir gerade das Restaurant betraten, klingelte mein Telefon. Es war Dad.
»Komm zurück, Junge«, sagte er nur.
Die Verwandten standen gemeinsam mit Freunden, Ärzten und Pflegern dicht gedrängt im Zimmer. Dad war bei Beau, hielt die linke Hand seines ältesten Sohns, drückte sie mit beiden Händen an seine Brust. Meine Mutter stand neben ihm, Hallie und die Kinder klammerten sich aneinander und weinten. Das Licht im Zimmer war aus, aber durch die halb geöffneten Jalousien drang die Sonne des frühen Abends.
Der Herzmonitor schwieg. Dr. Kevin O’Connor, der Arzt des Weißen Hauses, der für meinen Vater zuständig war, trat vor und erklärte mit getragener Stimme den Todeszeitpunkt.
»Neunzehn Uhr vierunddreißig.«
Die Menge, die Beau umgab – seine Kinder, meine drei Töchter, unsere Ehefrauen und Schwiegereltern, die kleine Kolonie der Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins –, teilte sich, um eine Gasse für mich frei zu machen. Ich ging hindurch, direkt auf Beau zu. Ich nahm seine rechte Hand, stand meinem Vater gegenüber. Ich drückte meine Wange an die Stirn meines Bruders, küsste sie. Dann nahm ich die Hand meines Vaters, die noch immer Beau hielt. Ich beugte mich herab, legte meinen Kopf auf die Brust meines Bruders und weinte. Dad strich mir durchs Haar und weinte ebenfalls. Dann beugte auch er sich hinab, legte seinen Kopf neben meinen, und die Tränen rannen uns über die Gesichter.
Niemand sprach. Nichts war zu hören, nur unser Schluchzen.
Dann, inmitten dieser tiefsten Verzweiflung, spürte ich, wie sich der Brustkorb meines Bruders ein wenig hob. Dann einen Herzschlag. Ich sah Dad an, seine Augen waren gerötet und wund, und flüsterte: »Er atmet noch.« Ich sah die Ärzte an, um es ihnen ebenfalls zu sagen. Sie betrachteten mich mit einer Mischung aus Sorge und Mitleid. Einer von ihnen antwortete leise: »Nein, Hunter, es tut mir leid, aber Ihr Bruder ist –«
Dann wurde er vom Herzmonitor unterbrochen, der sich regte. Niemand im Zimmer reagierte. Ich glaube, die meisten von ihnen waren so bestürzt, dass sie nicht verstanden, was gerade geschah.
Nein, ich dachte auch nicht, dass Beau wie durch ein Wunder wieder genesen sei. Aber ich hatte das Gefühl, als sei er für einen Augenblick zurückgekehrt – so wie man zurückkehrt, wenn man sein Portemonnaie oder seine Autoschlüssel vergessen hat –, damit wir beide unsere Wege gehen könnten. Er hatte nur noch einmal kurz hereingeschaut, damit ich ihm noch ein einziges Mal sagen konnte, was er längst wusste und was ich schon so oft gesagt hatte.
Dass ich ihn liebte. Dass ich immer bei ihm sein würde. Dass uns nichts würde trennen können, nicht einmal der Tod.
Dann machte er seinen letzten, flachen Atemzug und ging für immer von uns.
Dr. O’Connor gab noch einmal den Todeszeitpunkt an:
»Neunzehn Uhr einundfünfzig.«
Requiem
Wir begruben Beau sieben Tage später.
Die Trauernden saßen dicht gedrängt in der katholischen Kirche St. Anthony of Padua, im italienischen Viertel von Wilmington. Die Kirche war von den Gemeindemitgliedern, unter denen viele bestens ausgebildete, eingewanderte Handwerker waren, selbst erbaut worden, der letzte Stein wurde 1926 gelegt. St. Joseph on the Brandywine, unsere Heimatgemeinde, die eine Meile entfernt von Pulvermühlenarbeitern gebaut worden war, war nicht groß genug, um die Menge der Trauernden zu fassen. Doch selbst in St. Anthony war nicht genug Platz für alle, viele Gäste verfolgten das Geschehen zusammengepfercht in einem Nebenraum.
Unter den Trauergästen waren Präsident Barack Obama mit Familie, Bill und Hillary Clinton, der ehemalige Justizminister Eric Holder und Senator John McCain, der drei Jahre später am gleichen Krebs sterben sollte wie Beau.
Außerdem verlieh der Stabschef der Armee Raymond Odierno, der in der Zeit, als Beau dort diente, oberster Befehlshaber im Irak war, meinem Bruder einen posthumen Orden, den Legion of Merit. Chris Martin von der Band Coldplay, der einer der Lieblingsmusiker von Natalie und dem kleinen Hunter war, spielte das Lied »’Til Kingdom Come«. Er saß mit seiner akustischen Gitarre im Altarraum, begleitet nur von der Orgel.
Tausende Menschen hatten Beau in den Tagen zuvor bereits die letzte Ehre erwiesen. Die erste Aufbahrung hatte in Dover, der Hauptstadt von Delaware, stattgefunden, wo sein Sarg, bedeckt mit einer Flagge, in der Legislative Hall, dem Parlamentsgebäude, ausgestellt war. Danach war er in St. Antonius aufgebahrt worden. Zweimal hatten wir über Stunden und ohne Pause die Beileidsbekundungen der Menschen entgegengenommen, die lange Schlangen gebildet hatten. Nur so konnten wir jeden einmal kurz begrüßen. Wir umarmten die Menschen, hielten ihre Hände, hörten ihnen zu, wie sie sich an Beau erinnerten und uns erzählten, was er ihnen bedeutet hatte.
Die Menge repräsentierte die Bevölkerung von Delaware und darüber hinaus: Menschen jeder Hautfarbe; Italiener, Iren, Polen, Juden, Puerto Ricaner, Griechen. Einige lagen in Tücher eingeschlagen in den Armen ihrer Eltern, andere wurden von ihren erwachsenen Kindern oder Pflegern hereingeschoben.
Es schien, als wären in der Menge der Trauernden alle Menschen, mit denen Dad, Beau oder ich je zur Schule gegangen waren, mit denen wir zusammengearbeitet oder Wahlkampf gemacht hatten. Menschen waren gekommen, die wir lediglich von der Straße kannten, andere hatten uns im Restaurant das Tagesmenü serviert. Da waren die Friseure, die Beau und mir den ersten Haarschnitt verpasst hatten. Die Kinderärzte, die uns untersucht hatten, die Zahnärzte, die unsere Zahnspangen angepasst hatten. Die Krankenschwestern und Pfleger aus St. Francis waren da, die sich von der Geburt bis zu dem Tag, an dem ich mir beim Football im ersten High-School-Jahr zum dritten Mal das Handgelenk brach, um uns gekümmert hatten.
Lehrer