„Brüne hat ihn gesehen, als er mit dem Boot an der Falle vorbeipullte“, erklärte Eberhard so gelassen wie möglich. Er winkte Brüne mit dem Stock zu. „Los, erzähl das mal. So, wie’s war. Nun?“
Brüne räusperte sich und sagte: „Er schipperte da im Priel ’rum, der Klusmeier, und sang lauter unanständige Lieder. Ich wette, er war stinkbesoffen.“
„Schiet!“ schrie Lüder. „So sternhagelvoll konnte er gar nicht sein, daß er so was machte! Ihr lügt mal wieder, ihr Hunde!“
„Jetzt reicht’s mir aber!“ brüllte Karl. „Seht euch doch das Boot erst mal an! Es hängt eine leere Korbflasche drin, sie ist mit einem Tampen an der Ducht festgebunden! Da war Korn drin, und Klusmeier hat sie geleert!“
„Ich verlange, daß ihr mitkommt“, sagte der alte Eberhard. „Wir schwindeln euch nichts vor, das versichere ich euch.“ Er warf Frieda einen giftigen Blick zu. „Vielleicht vertraut ja irgendwer unter euch doch noch auf mein Wort.“
„Ich nicht!“ rief Lüder. „Das ist eine Falle! Ihr wollt uns weglocken und uns drüben was über die Rübe geben!“
„Das kannst du auch gleich haben!“ brüllte Karl und griff nach dem Knauf seines Säbels.
„Frieda hob plötzlich beide Hände. „Nun legt mal die Ohren an. Ich finde, an der Sache könnte was Wahres dransein. Lüder und ich, wir segeln mit einem unserer Boote nach Baltrum hinüber und nehmen das gestrandete Boot in Augenschein. Wenn wir in einer Stunde nicht zurück sind, setzt ihr euch alle in Bewegung und greift die Insel an, verstanden?“
„Aber, Mutter“, sagte Lüder. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.“
„Ist es aber. Halt deine Luke, das Kommando führe ich.“ Sie drehte sich um und tippte Willem vor die Brust. „Du übernimmst hier den Befehl, bis wir zurück sind. Halt die Augen offen und stell überall Wachen auf.“
Der alte Eberhard grinste. „Ich weiß schon, was du denkst, Frieda. Unsere Landung soll ein Ablenkungsmanöver sein, damit unsere Leute von einer anderen Seite her Norderney angreifen können. Aber dem ist nicht so. Das darfst du mir, ruhig glauben.“
„Mir kommen gleich die Tränen“, sagte sie spöttisch. „Los jetzt, das Boot flottmachen. Oder wollen wir uns hier die Beine in den Leib stehen?“
So mußte Lüder – völlig überrumpelt und dem Willen seiner Pflegemutter ausgeliefert – gehorchen, und wenige Minuten später wurden beide Boote durch die Brandung in die Passage hinausgepullt. Als sie fast die Barriere erreicht hatten, wurden die Segel gesetzt, und hart am Wind glitten die Jollen mit zunehmender Fahrt auf Baltrum zu.
Nach einer halben Stunde war die Stelle erreicht, an der die Lütt-Jehans das Boot gefunden hatten. Lüder und Frieda untersuchten es eingehend von allen Seiten, fanden auch die leere Flasche und konnten am Ende nicht abstreiten, daß dies Klusmeiers Boot war. Alle Spuren schienen tatsächlich darauf hinzuweisen, daß Klusmeier das Opfer eines bedauerlichen Unglücksfalls geworden war.
„Trotzdem stinkt die Sache zum Himmel“, sagte Lüder Groot-Jehan mit verdrossener Miene. „Es will mir einfach nicht in den Kopf, daß er so ganz allein …“
„Schluß jetzt“, unterbrach ihn Frieda. „Wir segeln nach Norderney zurück, und du hängst Klusmeier von unserem Tor ab, verstanden? Er wird beerdigt, und damit hat sich der Fall.“
Lüder wollte widersprechen, bezwang sich dann aber und nickte nur mürrisch.
„Soll das heißen, daß wir vielleicht doch noch Frieden schließen?“ fragte Eberhard. „Holla, das wäre ein Segen für Norderney und Baltrum. Wir könnten so manches Schiff zusammen aufbringen und ausplündern, von den Toppen bis zum Kielschwein.“
„Das tun wir ja sowieso“, sagte Frieda mit einem schiefen Grinsen. „Sei man nicht so voreilig, Eberhard Lütt-Jehan. Ich kenne dich, du bist ein ausgefuchstes Schlitzohr. Vorläufig bleibt alles so, wie es ist, nur kümmere ich mich jetzt wieder ein wenig mehr um die Dinge. Wie früher.“
„Dazu kann ich dich nur beglückwünschen“, sagte der Alte, und am liebsten hätte er ihr jetzt die Hand geschüttelt. Er ließ es aber doch lieber. Man soll nichts übertreiben, dachte er.
Frieda und Lüder nahmen die Überreste von Klusmeiers Jolle mit ihrem Boot in Schlepp, dann kehrten sie nach Norderney zurück, wo sie von der Sippe bereits sehnlichst erwartet wurden.
„Was soll denn das alles, Mutter?“ schrie Lüder unterwegs Frieda zu. „Willst du ein Komplott gegen mich schmieden?“
„Jawohl!“ rief sie und versetzte ihm einen Stoß, der ihn um ein Haar außenbords geworfen hätte. „Du bist ja immer noch nicht erwachsen, du Lümmel! Aus dir mache ich einen ganzen Mann, verlaß dich drauf! In den nächsten Tagen suche ich ein Mädchen aus dem Dorf aus, und dann wird geheiratet!“
„Nein, bloß das nicht!“
Frieda nahm einen der Bootsriemen zur Hand und schwenkte ihn drohend. „Wer hat hier das Kommando, du oder ich?“
„Du“, erwiderte er kleinlaut. Sie war ihm über, und er wagte nicht, sich gegen sie aufzulehnen. Mit dem flotten Junggesellenleben, soviel stand fest, war es jetzt für ihn vorbei.
7.
Die „Isabella IX.“ segelte mit vollem Preß durch die Nordsee und näherte sich den Ostfriesischen Inseln. Schon seit einiger Zeit hatten Hasard und seine Männer den „Eiligen Drachen“ Thorfin Njals aus den Augen verloren, der nach wie vor auf demselben Kurs lag wie sie, an Geschwindigkeit dem neuen Schiff der Seewölfe jedoch unterlegen war.
Während die Galeone durch die bewegte See jagte, saß Hasard oft in seiner Kammer und sah auf das versiegelte Kuvert, das er immer wieder aus der Schublade seines Pultes hervorholte.
Welche Order mochte es wohl enthalten?
Wieder stellte er die abwegigsten Überlegungen an, gelangte aber nie zu einem logischen Schluß. Groß war der Fächer der Möglichkeiten, vielfältig konnten die Beweggründe sein, die die Königin von England zu diesem Auftrag veranlaßt hatten. Kaperfahrt? Entdeckung? Ein schnelles, radikales Vorgehen gegen Feinde der Nation, die englische Schiffe behinderten? Spionage? All das mochte zutreffen, aber es hatte keinen Zweck, Mutmaßungen darüber anzustellen. Es führte ihn ja doch nicht weiter.
Einmal war er sogar versucht, das Siegel vor der Zeit aufzubrechen, doch rasch legte er das Kuvert wieder weg und schalt sich einen Narren, daß er überhaupt daran dachte.
Er kehrte auf das Achterdeck zurück, kontrollierte die Stellung der Segel und sprach mit Ben Brighton, um sich abzulenken.
„Eine verdammte Situation“, sagte auch Ben. „Wir haben einen Kurs, aber wir haben nicht die geringste Ahnung, wo unser Ziel liegt. Hat der Mensch so was schon erlebt?“
„Das hat er nicht“, erwiderte der Seewolf. „Es ist das erste Mal, daß wir uns in einer solchen Lage befinden. Aber du stimmst ja wohl mit mir überein, daß wir Lord Gerald nicht enttäuschen durften.“
„Natürlich. Er hat viel für uns getan und hält große Stücke auf uns. Beißen wir uns also durch.“
„Ja!“ schrie Big Old Shane zu ihnen herüber. „Was anderes bleibt uns wohl auch nicht übrig, oder?“
Hasard zuckte mit den Schultern und betrat das Ruderhaus, über das auch die neue „Isabella“ verfügte, um den Rudergänger vor den überkommenden Seen zu schützen. Rauh war das Meer, schlecht und diesig die Sicht, aber noch bewährte sich die „Isabella“ hervorragend.
Hasard warf einen Blick auf die Karte, die an der Innenseite der Rückwand festgenagelt war, und berechnete die Position.
„Borkum und Juist liegen