„Mein Ehrenwort, daß alles der Wahrheit entspricht“, sagte Ives.
„Meine Kerle brauchen von der Schatulle nichts zu wissen!“ stieß Olivaro hervor.
„Einverstanden“, erwiderte der Kapitän. So hatte er einen Pakt mit dem Piratenhäuptling getroffen.
„Hol das Mädchen“, befahl Olivaro. „Aber paß auf! Ich knalle euch sofort ab, wenn ihr zu fliehen versucht!“
„Wir werden nicht fliehen“, versprach Burl Ives. Dann kletterte er wieder an Bord und kehrte zu Farah Acton zurück. Auf diese Weise hatte er Zeit und Gelegenheit, sie über alles aufzuklären, was vorgefallen war und was er mit Olivaro ausgehandelt hatte.
Flucht war sinnlos, Olivaro hatte längst rund um das Wrack der „Samanta“ seine Wächter postiert. Burl Ives und das Mädchen waren der Bande ausgeliefert, so oder so.
Doch zumindest hatte der Kapitän einen Aufschub herausgeschunden. Einer Laune Olivaros war es zu verdanken, daß Ives und Farah Acton vorerst nicht über die Klinge sprangen.
Die Piraten hatten die Ladeluken aufgebrochen und fielen wie gierige Ratten über die Fässer her. Als erstes stachen sie ein Faß Bier an. Sprudelnd schoß das Naß heraus. Grölend bewaffneten sich die Kerle mit Kübeln, Pützen und Mucks und gossen sich das Bier in den Rachen.
Olivaro grinste. Die sind erst mal abgelenkt, dachte er.
Es war der richtige Zeitpunkt, sich um die Schatulle zu kümmern. Olivaro enterte auf das Schiff. Seine Gestalt war ein furchterregender Schatten in der Sturmnacht.
In Olivaros „Hauptquartier“ hielt ein einziger Kerl Wache. Er hieß Juanito und zeichnete sich durch beispiellose Faulheit aus. Sich die Stiefel anzuziehen, war ihm zu anstrengend, deshalb lief er immer barfuß herum. Juanito war zu faul, sich richtig zu waschen, zu träge, beim Gehen seine Füße hochzuheben. Sein Schlurfen war sein Erkennungszeichen.
Nur wenn Olivaro ein Schiff angriff, wurde Juanito hellwach. Dann verwandelte er sich in eine reißende Bestie. Heute nacht allerdings war er froh, daß ihn Olivaro als Posten im Fischerdorf zurückgelassen hatte. Bei diesem höllischen Sturm hatte Juanito keine große Lust, stundenlang draußen herumzulaufen und sich vom Wind umblasen zu lassen.
Hier drinnen war es gemütlicher. Juanito hatte sich hingehockt und seine Beine auf den Tisch gelegt. Grinsend entkorkte er eine Flasche Wein – was auch schon eine Arbeit für ihn war. Als er es geschafft hatte, hob er die Flaschenöffnung an die Lippen und ließ sich den süffigen Wein in die Kehle rinnen.
Feines Leben, dachte er.
Draußen heulte und orgelte der Sturm, als wolle er noch ein paar Jahre so wüten. Egal, sagte sich Juanito, so halte ich es aus. Solange der Weinvorrat reichte, der sich in einem Nebenraum befand, hatte er keinen Grund, sich zu beklagen.
Und wenn die Spießgesellen im Verlaufe der Nacht sogar noch mit Beute anrückten, war das Leben noch schöner. Denn sie mußten auch mit Juanito teilen. Jeder von der Bande, ganz gleich, welche Aufgabe er gerade versah, hatte Anspruch auf sein Stück von dem großen Kuchen, wenn es ans Verteilen ging.
Plötzlich zuckte Juanito zusammen.
Unter ihm ertönte ein gellender Schrei – wie in höchster Todesnot ausgestoßen.
Um ein Haar hätte Juanito etwas von dem kostbaren Wein verschüttet. Er verschluckte sich und hustete. Teufel auch! Was hatte das Geschrei zu bedeuten? Kriegten sich die Bastarde dort unten nun schon gegenseitig in die Haare?
Juanito gab einen grunzenden Laut von sich. Er hustete noch ein bißchen, dann war die Aufregung vorbei. Wieder nahm er einen ordentlichen Schluck von dem Rebensaft. Was kümmerte ihn, was die Fischerfamilie trieb? Von ihm aus konnte das Pack sonst was veranstalten. Sollten sie sich ruhig die Augen auskratzen. Ihn, Juanito, konnte das in seiner wohlverdienten Ruhe nicht stören. Ihn ging das alles nichts an.
Wieder stieg ein spitzer Schrei aus dem Keller auf.
Juanito nahm die Füße vom Tisch und stieß eine üble Verwünschung aus. Dann nahm er die Riesenanstrengung auf sich, sich zu erheben. Er stellte die Flasche weg und wischte sich mit dem Handrücken über den feuchten Mund. Drecksgesindel, dachte er aufgebracht, euch ziehe ich die Hammelbeine lang.
Fluchend bückte er sich und öffnete die Kellerluke. Wohlweislich nahm er die Pistole in die Hand und spannte den Hahn. Die Bastarde sollten nicht glauben, daß sie ihn mit einem billigen, dämlichen Trick hereinlegen konnten.
Trotz des Sturmwindes, der in diesem Moment mit größter Macht brüllte und die Hüttenwände erzittern ließ, konnte Juanito ganz deutlich das Weinen des Mädchens unter sich vernehmen.
„Was ist da los?“ schrie er. „Könnt ihr nicht eure Klappen halten, ihr verdammtes Lausepack?“
Pamela Calafuria heulte und schluchzte zum Steinerweichen. Sie tat genau das, was ihr Bruder Rodrigo ihr eingeschärft hatte. Und Domingo und Asuncion, die Eltern, spielten ebenfalls mit. Jeder hatte seine Aufgabe in dem Unternehmen, das jetzt ablief.
„Wer hat da geschrien?“ stieß Juanito zornig hervor. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, unter sich etwas zu erkennen. Aber es war stockfinster.
„Ich war’s“, erwiderte Pamela mit bebender Stimme.
Juanito lachte roh. „Was ist los, kriegst du’n Kind?“
„Eine Ratte hat mich gebissen!“ klagte das Mädchen.
„Pfui Teufel!“ stieß Juanito hervor.
„Muß ich jetzt sterben?“ heulte Pamela.
„Ach, Quatsch, die Ratte hat sich höchstens an dir den Magen verdorben“, sagte Juanito. Glucksend lachte er über seinen großartigen Witz und hieb sich sogar auf den Unterschenkel, daß es klatschte.
„Ihr könnt mich doch hier nicht sterben lassen!“ jammerte das Mädchen.
Juanito entsann sich: Sie war ein hübsches Mädchen. Schwarzhaarig, feurig, mit dunklen Rehaugen. Konnte man ein solches Geschöpf umkommen lassen? Nein, das ging denn wohl doch zu weit.
„Sieh dir doch die Wunde an“, keuchte Pamela. „Sie blutet wie verrückt.“
„Warte“, sagte der Kerl grunzend. „Ich hole eine Lampe. Habt ihr denn kein Licht da unten, ihr Dummköpfe?“
„Das Öl ist uns ausgegangen“, sagte Domingo Calafuria.
Juanito holte die Öllampe, die an einem Eisenhaken unter dem Mittelbalken der Decke hin und her schwang, verband sie mit einem Tau und fierte sie in das Kellerverlies ab. Er beugte sich etwas hinunter, um Näheres erkennen zu können. Vorerst sah er nur die verkrümmte Gestalt des Mädchens auf einem der Lager.
Etwas Spitzes, Scharfes traf Juanitos Hals, jäh und völlig unversehens. Rodrigo hatte mit seinem Messer zugestochen. Die ganze Zeit über hatte er unter der Kellerluke gelauert, neben der Stiege. Halt fand er dort nur an zwei dicken Eisennägeln, die aus dem Mauerwerk ragten. Doch die genügten dem jungen Mann. Rodrigo war schlank und gewandt wie eine Katze. Und er war von dem Wunsch beseelt, wenigstens einen dieser Teufel umzubringen.
Die Öllampe fiel in den Keller und kippte um. Domingo eilte zur Stiege und stieg hoch. Pamela griff nach der Lampe und richtete sie wieder auf. Ihre Mutter wischte das verschüttete Öl auf, damit es ja nicht Feuer fing.
Juanito, der Pirat, wollte auf den Gegner feuern, doch das Messer hatte seine Halsschlagader getroffen. Die Kräfte verließen ihn. Die Pistole entglitt seinen schlaffen Fingern.
Domingo Calafuria fing sie auf. Rodrigo packte Juanito mit einer Hand und zerrte ihn nach unten. Der Pirat kippte ab und stürzte hart und mit einem dumpfen Laut auf