Jede Bucht war als Nothafen recht – aber kein Seemann ahnte, daß im Süden von Mallorca eine blutrünstige Bande lauerte, die auf solche Beute nur wartete.
Olivaro und seine Kerle überfielen jedes Schiff, schnitten der Mannschaft die Gurgeln durch und plünderten alles aus. War der Segler gut in Schuß, dann rissen sie sich auch diesen unter den Nagel.
So war Olivaros kleiner Verband, der aus einer Karavelle und drei Einmast-Schaluppen bestand, allmählich gewachsen. Die Piraten kannten weder Skrupel noch Gnade. Wer ihnen in die Hände fiel, war zum Tode verdammt.
Natürlich hätten die Schnapphähne auch die Fischer einen nach dem anderen niedermetzeln können, als sie eines Tages beschlossen hatten, das Dorf zu besetzen und zu ihrem festen Stützpunkt zu wählen. Doch Olivaro hatte es sich anders überlegt.
Die Fischer und ihre Familien wurden noch gebraucht. Hin und wieder durften einige von ihnen zum Fang auslaufen – selbstverständlich unter Bewachung. So war die Verpflegung der Meute gesichert.
Die Frauen und Mädchen kochten, putzten und wuschen für die Piraten – und sie dienten der Bande zum Vergnügen. Olivaro hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Er hatte einen hervorragenden Schlupfwinkel gefunden, und er verfügte über Sklaven, die jede Arbeit für ihn und seine Kumpane erledigten.
Was wollte er noch mehr?
Gold, Silber, Geld und Juwelen – das wollte Olivaro. Er wartete auf den Beutezug seines Lebens, auf den großen Coup. Irgendwann mußte er glücken. Dann brauchte Olivaro nie mehr zu „arbeiten“. Er konnte sich irgendwohin zurückziehen und ausruhen. Huren, saufen und fressen – das würden dann seine einzigen Aktivitäten sein.
Von dieser Zukunft träumten auch seine Spießgesellen. Sie hatten großes Vertrauen in Olivaro. Er war nicht nur ein erstklassiger Kämpfer, er hatte auch Grips. Die Pläne für die Raids, die sie durchführten, stammten immer von ihm.
Er war ein Meister im Tüfteln und wußte stets die richtige Strategie und Taktik in Anwendung zu bringen. Er würde die Bande zum Erfolg und zum Reichtum führen.
Im Nachlassen des Tageslichtes pfiff und heulte der Sturmwind über die Küste. Die schwarzen Wolken verdunkelten den Himmel vollends – es wurde stockfinster. Donner grollte in der Ferne. Blitze zuckten wie gespenstische Irrlichter. Die See schwoll an, das Rauschen der Brandung verwandelte sich in ein dumpfes Dröhnen.
„Wenn die Hunde heute nacht das Dorf verlassen, nutzen wir die Chance“, sagte Rodrigo. „Sie werden nur wenige Wachtposten zurücklassen.“
„Du willst es mit den Kerlen aufnehmen?“ fragte sein Vater.
„Du etwa nicht?“
„Wir haben keine Waffen“, sagte Domingo.
„Ein Messer, das ich vergraben habe“, erwiderte sein Sohn.
„Das reicht nicht.“
„Vater“, sagte Rodrigo. „Ich lasse nicht zu, daß sie uns weiterhin demütigen und schinden. Die Sturmnacht ist unsere große Gelegenheit. Wir dürfen nichts unversucht lassen.“
„Da hast du recht“, murmelte der Fischer.
„Wollt ihr euch umbringen?“ fragte Asuncion. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Nein“, entgegnete Rodrigo. „Wir wollen retten, was noch zu retten ist. Wir müssen nur zusammenhalten. Gemeinsam sind wir eine kleine Streitmacht. Ein einzelner schafft es nicht.“
„Ich verstehe“, sagte Pamela. Sie kroch zu ihrem Bruder. Stolz und Entschlossenheit funkelten plötzlich in ihren Augen. „Jetzt ist mir alles klar. Ich bin mit dabei und helfe euch, wo ich kann.“
Asuncion Calafuria keuchte erschrocken. „Ist das dein Ernst, Pamela? Ich begreife nicht, was …“
„Ich will es dir erklären“, sagte ihr Mann. „Setz dich hier zu uns und laß uns beraten. Ich habe eine Idee. Wir wollen den Plan besprechen und alles zurechtlegen. Noch haben wir Zeit genug.“
Das Tosen des Sturmes nahm immer mehr zu. Bald war das Lachen und Johlen der Piraten nur noch wie aus weiter Ferne zu vernehmen. Olivaro und dessen Kumpane hörten nicht einen Bruchteil dessen, was unter ihnen die Gefangenen in ihrem Verlies beratschlagten.
Der Sturm setzte die Schebecke gefangen. Er zerrte an ihr, beutelte sie durch und stieß sie in immer tiefere Wellenschluchten. Der Wind heulte wie tausend Wölfe, und die Brecher donnerten gegen die Bordwände. Wasser und Gischt schlugen über das Oberdeck, als leerten Giganten ihre riesigen Kübel über dem Dreimaster aus.
Philip Hasard Killigrew und seine Mannen hatten das Schlechterwerden des Wetters rechtzeitig genug registriert. Aber der Seewolf hatte sich in den Kopf gesetzt, wenigstens noch Mallorca zu erreichen, dort eine geschützte Bucht zu suchen und vor Anker zu gehen.
Die Männer hatten Sardinien hinter sich gelassen. Der Kurs lag auf West-Süd-West an, Richtung Meerenge von Gibraltar. Hasard wollte das Mittelmeer jetzt so schnell wie möglich verlassen, dann die Iberische Halbinsel runden und durch den Golf von Biskaya nordwärts heim nach England segeln.
Es war ein Ziel, mit dem er der Crew aus dem Herzen sprach. Auch sie konnten jetzt kaum erwarten, nach England zurückzukehren und – unter anderem – mal wieder bei dem dicken Nathaniel Plymson in der „Bloody Mary“ von Plymouth tüchtig die Mäuse auf dem Tisch tanzen zu lassen.
Doch der Weg nach Hause war ein Kurs mit Hindernissen. Überall, wo die Männer landeten, gab es Ärger und Verdruß. In der Türkei und in Griechenland wären sie um ein Haar vor die Hunde gegangen. In Venedig war der Teufel losgewesen.
Nicht besser hatte es in Süditalien und auf Sizilien ausgesehen. Auf Sardinien waren die Arwenacks ohne ihr Zutun in eine Blutrache-Affäre verwickelt worden. Kein Wunder, daß sie nicht das geringste Interesse hatten, noch länger im Mittelmeer zu verweilen.
Jetzt aber, im Toben und Wüten des Sturmes, stellte sich Hasard die Frage, ob er nicht doch eine Fehlentscheidung getroffen hatte. Wäre es nicht klüger gewesen, die Insel Menorca anzulaufen?
Routinemäßig hatten die Mannen alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um sich und das Schiff gegen Sturm und Unwetter abzusichern. Sie hatten die Luken und Schotten verschalkt, die Kanonen festgezurrt und die Manntaue gespannt.
Vorsichtshalber hatte der Seewolf beim Heraufziehen des Orkans auch die Sturmsegel setzen lassen – was sich jetzt als kluge Entscheidung erwies. Die Böen rissen und rucksten wie verrückt an dem Tuch. Die Masten bebten und knarrten. Um die normale Besegelung wäre es zu diesem Zeitpunkt längst geschehen gewesen. Der Sturm hätte sie in Fetzen gerissen.
Ben Brighton, Hasards Erster Offizier und Bootsmann, hatte sich unter Deck noch einmal mit dem vorhandenen Kartenmaterial befaßt. Jetzt erschien er wieder an Oberdeck und hangelte in den Manntauen auf seinen Kapitän zu.
„Sir!“ schrie er.
Der Seewolf wandte sich ihm zu.
„Wie sieht es aus?“ brüllte er. „Ist Mallorca noch weit entfernt?“
„Etwa zwanzig Meilen!“
„Und Menorca?“
„Die Insel liegt viel weiter nördlich!“ erwiderte Ben im Jaulen und Orgeln des Sturmes. „Mindestens fünfzig Meilen!“
Hasard atmete auf – trotz der bedenklichen Lage. Seine Berechnungen stellten sich nun doch als richtig heraus.
Der Kurs der Schebecke lag viel zu weit südlich versetzt, um Menorca als Nothafen in Betracht zu ziehen. Mallorca war weitaus näher. Und die größte Insel der Balearen bot sicherlich auch weitaus mehr Schutzmöglichkeiten als ihre kleineren Schwestern.
Der Sturm gewann die Oberhand gegen die Schebecke und zerfetzte ihre Segel. So trieb das Schiff in der schwarzen, kochenden See, praktisch vor Topp und Takel lenzend. Der Dreimaster raste in abenteuerlicher Fahrt