Da war ein riesiger dunkler Felsen, sicher der Eingang ins Walhall, und als er ihn endlich erreicht hatte, stoben kreischend zwei schwarze Vögel auf und flogen davon.
Hugin und Munin, dachte er, die beiden Raben Odins, die verteufelt an große Möwen erinnerten. Der eine verkörperte den Gedanken, der andere, Munin, die Erinnerung. Jetzt waren Gedanken und Erinnerungen davongeflogen, und der Nordmann schüttelte sich wie ein nasser Hund.
Es dauerte lange, bis Odins Raben zurückkehrten und der Wikinger etwas ernüchtert in die Wirklichkeit blickte. Er war jetzt eine ganze Weile gekraxelt – über Felsen und Riffe – und strebte mit der einem Betrunkenen eigenen Beharrlichkeit allmählich wieder nach oben. Das dauerte eine kleine Ewigkeit, aber er schaffte es.
So richtig paßt alles noch nicht zusammen, dachte er. Walhall hatte ihn wieder ausgespien, wahrscheinlich hatte er sich danebenbenommen. Und die Walküren, die an seinen Helm geklopft hatten, waren auch verschwunden.
Triefnaß und leise fluchend begab er sich weiter nach oben, bis er aus Donegals Rutsche Stimmen und lautes Lachen hörte.
Verdammt, was war nur genau vorgefallen? fragte er sich immer wieder. Das ging doch alles nicht mit rechten Dingen zu. Endlich erreichte er „Old Donegals Rutsche“ und riß das Schott auf. Dann torkelte er klatschnaß hinein und sah sich um.
Zunächst wurde es eigenartig still und ruhig. Jedes Gespräch verstummte, auch das Gelächter hörte auf. Sie alle starrten den Nordmann an wie einen Geist.
„Der ist schon wieder da“, sagte jemand in die Stille hinein. „Das gibt’s doch gar nicht.“
Daraufhin brüllten sie los, schrien und lachten wie die Gäule. Ein ganz übles Gewieher war das.
Als Thorfin zu Smoky blickte, der sich ebenfalls vor Lachen krümmte, kehrte ein kleiner Teil der Erinnerung zurück – wie er glaubte.
Er ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. Dabei grinste er, denn jetzt glaubte er genau zu wissen, was vorgefallen war.
„Alle Achtung“, sagte er. „Respekt, Smoky, Respekt. Du hast ja einen furchtbaren Schlag drauf. Mann, war das ein Hammer! Der hat mich glatt über die Felsen bis nach unten getrieben. Aber nur, weil ich stockbesoffen war“, setzte er einschränkend hinzu.
„Hä?“ fragte Smoky. „Hammer, Felsen? Ich kapier’ das alles nicht mehr so richtig.“
Daraufhin brach wieder ein schauderhaftes Gelächter los, das sich weder Smoky noch der Wikinger richtig erklären konnten. Aber die Kerle waren ohnehin alle ziemlich aufgefüllt, das war jetzt auch nicht mehr so wichtig.
Erneut kreisten die Humpen, und unter dem allgemeinen Gelächter sang Old O’Flynn, zwar nicht schön, aber sehr laut: „Wir segeln nach Potosi, zur heißen Mary-Rosy.“
Aber damit war wiederum seine Snugglemouse nicht einverstanden, die rothaarige Mary O’Flynn. Die verklarte ihrem Alten mit ihrer Reibeisenstimme, daß ihm gleich wieder mal ein Bierhumpen auf dem verdwarsten Schädel zerplatzen würde, falls er weiterhin schmutzige Lieder sänge.
Trotz allem war es doch ein recht gemütlicher Abend, so fanden alle, und jeder hatte seinen Spaß. Selbst der Wikinger fand es urgemütlich, wenn es auch mit dem Einzug in Walhall noch nicht so ganz geklappt hatte.
Erst am frühen Morgen trollten sich die ersten an Bord. Ein paar andere zogen es vor, in Donegals Rutsche zu übernachten, denn sie trauten sich nicht mehr über die Felsen hinunter.
4.
In Hasards Kammer sah es am anderen Tag aus wie auf einem Schlachtfeld. Da der große Tisch das Kartenmaterial nicht mehr aufnehmen konnte, waren die Karten auf den Boden gelegt worden. Den größten Teil dieser Karten hatte Jean Ribault mit auf die „Isabella“ gebracht.
Sie hatten alles an verfügbaren Karten zusammengetragen, was sich nur auftreiben ließ. Es waren Karten Neugranadas, wie die Spanier ihren Kolonialbesitz nannten. Schon den halben Tag bis zum Nachmittag hatte sich der Seewolf damit beschäftigt und immer wieder Berechnungen angestellt.
Bei ihm waren Ben Brighton, Jean Ribault, Karl von Hutten und Dan O’Flynn, die auf die Karten und Aufzeichnungen blickten.
„Das wird keine Spazierfahrt“, sagte Hasard ernst, „auch wenn einige sich das so vorgestellt haben. Hier, bei der Überquerung des Isthmus, werden die ersten Schwierigkeiten und Probleme beginnen. Wir alle wissen, daß die Dons ihre Gold-, Silber- und Perlenbeute von Panama aus auf Maultierpfaden quer über den Isthmus nach Porto Bello oder Nombre de Dios bringen, nachdem die Schätze zuvor von der Tierra-Ferma-Flotte aus Valparaiso, Coquimbo, Antofagasta, Arica und Callao nach Panama transportiert wurden.“
„Auf diesen Maultierpfaden hat vor über zwanzig Jahren bereits Francis Drake auf der Lauer gelegen“, sagte Dan, „und die Transporte der Dons überfallen.“
„Nicht nur Drake“, sagte Ben Brighton, „auch Oxenham, der früher bei Drake fuhr, hat hier abstauben wollen, aber dabei hatte er Pech. Die Dons haben ihn erwischt und kurzerhand aufgeknüpft.“
Hasard nickte zustimmend, während er mit dem Finger über die Karte fuhr.
„Das ist richtig, deshalb wird die Überquerung des Isthmus wahrhaftig keine leichte Sache, obwohl wir darin bereits Erfahrung haben. Diesmal müssen wir jedoch damit rechnen, daß die Spanier ihre Sicherheitsmaßnahmen wesentlich verstärkt haben. So leicht lassen die sich nicht mehr überrumpeln.“
„Was die sogenannten Maultierpfade betrifft“, sagte von Hutten, „so verdienen sie diesen Namen keinesfalls. Ich kenne mich da ganz gut aus.“
„Warum verdienen sie diesen Namen nicht?“ wollte Dan wissen. „Es sind doch Maultierpfade.“
„Natürlich, so nennt man sie. Aber der Weg führt durch dichten tropischen Urwald bei mörderischer Hitze und schweißtreibender Feuchtigkeit. Wenn die Dons dort die Pfade schlagen, ist innerhalb kurzer Zeit nichts mehr davon zu sehen, weil der Dschungel sie schon nach einigen Tagen wieder überwuchert. Es ist schwierig, dort voranzukommen. Die Dons, so habe ich gehört, brauchen mit ihren Maultiertransporten mehr als drei Wochen, um die Landenge von Darién zu überqueren.“
„Also ein entbehrungsreicher Marsch“, sagte Hasard grimmig. „Da gehen die Schwierigkeiten auch bereits los. Man müßte einen zuverlässigen Bundesgenossen haben“, fügte er nachdenklich hinzu.
„Wie meinst du das, Sir?“
„Wenn wir es geschickt anstellen, können wir uns Bundesgenossen verschaffen, Feinde der Spanier selbstverständlich. Ich denke da an die Cimarrones, die entsprungenen und entwischten Negersklaven, die voller Haß auf die Spanier sind. Auch die Indianer dieses Gebietes könnte man vielleicht als Bundesgenossen gewinnen.“
„Sofern sie von den Spaniern nicht ausgerottet wurden“, sagte Karl von Hutten bitter. „Viele wird es nicht mehr geben, seit die Dons diese Gebiete unterjocht und versklavt haben.“
„Da hast du allerdings recht, Karl. Dennoch sollte es uns gelingen, einen guten Führer anzuheuern.“
„Das werden wir ganz sicher versuchen. Wo gedenkst du die Landenge zu überqueren?“ fragte Ribault.
„Ich schlage vor, daß wir sie an der schmalsten Stelle überqueren, und die befindet sich zwischen der Bucht von San Blas auf der karibischen Seite und der Mündung des Rio Bayano, der einige Meilen weiter östlich von Panama in den Golf von Panama fließt. Das wäre diese Stelle hier, die auf der Karte eingezeichnet ist. Ich habe sie heute morgen bereits markiert.“
Alle steckten die Köpfe zusammen und beugten sich über die Karte.
„Ja, genau“, sagte von Hutten. „Das hat außerdem noch den Vorteil, daß wir fast die Hälfte der gesamten