Denn selbst wenn Arkana und die anderen irgendwann mit ihrer Suche fertig waren und am Ufer auftauchten, würden sie doch herzlich wenig ausrichten. Old Donegal verfluchte sich selbst dafür, daß er sämtliche Drehbassen geladen hatte. Arkana und die fünf Männer waren dagegen mit ihren Pistolen hoffnungslos unterbewaffnet.
Unvermittelt waren Stimmen zu hören.
Minutenlang horchte der alte O’Flynn auf den rauhen Wortwechsel, der sich mehr und mehr zum Gebrüll steigerte. Er hörte heraus, daß sie sich darüber stritten, wer zur Schaluppe hinüberpullen sollte.
Aber ein anderer Umstand war von entscheidender Bedeutung: Die Halunken befanden sich achtern. Also war er vorerst ungestört. Und wenn sie wirklich die Idee hatten, sich auf das Vorschiff zu begeben, dann würde er durch ihre Schritte rechtzeitig gewarnt werden.
Er atmete tief durch. Dann schob er sich behutsam rückwärts über die Planken, indem er sich abwechselnd krümmte und wieder streckte. Als er mit dem Kopf gegen eine Taurolle stieß, hielt er inne. Der schwierigere Teil der Arbeit begann.
Erneut verstärkte sich das Dröhnen und Stechen in seinem Schädel, denn die Kraftanstrengung, mit der er sich jetzt an der Taurolle hochschob, war fast zuviel. Einen Moment hatte er das Gefühl, wieder das Bewußtsein zu verlieren. Feurige Ringe begannen vor seinen Augen zu tanzen, und die aufwallende Schwärze war tiefer und intensiver als die Dunkelheit des Kabelgatts.
Aber er bezwang die drohende Ohnmacht. Und er schaffte es, sich an der Kabelrolle halb aufzurichten, so daß er sich im Sitzen krümmen konnte.
Natürlich hatten ihm die Strolche den Cutlass abgenommen. Aber zu mehr waren sie mit ihrem beschränkten Verstand gottlob nicht fähig gewesen. Denn daran, daß es die Beinprothese des alten O’Flynn im wahrsten Sinne des Wortes in sich hatte, hatten sie nicht gedacht. Bei oberflächlichem Betrachten war dies ohnehin nicht zu erkennen. Man mußte schon sehr genau hinsehen, um das Geheimfach zu entdecken, das in den Schaft der Prothese eingearbeitet war.
Ferris Tucker hatte dieses Meisterwerk vollbracht, und Old Donegal hätte ihn in diesem Augenblick wieder einmal dafür umarmen können.
So weit es nur ging, zog er das gesunde Bein und die daran festgeschnürte Prothese an die Oberschenkel heran. Zum Glück konnte er die Finger bewegen, und er hatte einen Freudenschrei ausstoßen mögen, als er den Schaft der Prothese mit den Fingerspitzen ertastete.
Jetzt war es fast ein Kinderspiel, die Einkerbung zu finden und die Abdeckung des Geheimfachs herauszuheben. Als das lange Holzstück sich löste, hielt er es sorgsam fest und ließ es sacht zu Boden gleiten. Er hatte nicht vor, die Kerle durch ein unbeabsichtigtes Geräusch zu alarmieren.
Die schwierigere Aufgabe stand jedoch noch bevor.
Bevor er sich mit den Handfesseln befassen konnte, brauchte er etwas mehr Beweglichkeit. Deshalb packte er das Stilett, das in dem Hohlraum verborgen war, mit den Fingern. Es gelang ihm, die rasiermesserscharfe Klinge an die Seilwindungen der Fußfesseln heranzubringen. Wenige Schnitte mit leichtem Druck genügten, und die Fesseln fielen ab.
Aufatmend streckte Old Donegal das linke Bein aus.
Ohne viel Zeit zu verlieren, ließ er sich von der Taurolle auf die Planken gleiten und legte sich auf die Seite. Behutsam drehte er den Messergriff in den Fingern, bis die lange Klinge nach oben zeigte. Es geriet zu einem schweißtreibenden Bemühen, den scharfen Stahl zwischen den Handgelenken unter die Fesseln zu schieben. Und es ließ sich auch nicht vermeiden, daß er seine Haut dabei an mehreren Stellen ankratzte.
Er biß die Zähne zusammen und begann, die Klinge auf und ab zu bewegen. Naturgemäß konnte er hierbei viel weniger Druck anwenden als bei den Fußfesseln, und so dauerte es entsprechend länger. Dann jedoch, nach endlosen Minuten, spürte er, wie die erste Hanffaser zerplatzte. Weitere folgten, und schließlich ging es Schlag auf Schlag. Prickelnd und stechend setzte seine Blutzirkulation wieder ein, als die zertrennten Stricke wegfielen.
Old Donegal atmete tief durch und richtete sich halb auf. Als erstes verstaute er das Stilett wieder im Hohlraum, den er mit der Holzabdeckung verschloß. Dann horchte er.
Die Kerle befanden sich noch immer auf dem Achterdeck, hatten ihr Palaver aber beileibe noch nicht abgeschlossen.
„So eine verdammte Schufterei!“ rief einer. „Ausgerechnet jetzt, bei diesem Sturm. Können wir nicht wenigstens warten, bis das Wetter sich beruhigt hat?“
„Faule Ausreden“, entgegnete der Sargento Wütend. „Die Schaluppe wird abgewrackt und damit basta. Sturm oder nicht Sturm, ich will, daß wir so schnell wie möglich seeklar sind. Ich habe nämlich das Gefühl, daß hier noch einiges im Busch ist.“
Worauf du dich verlassen kannst, dachte Old Donegal und grinste sich eins. Er bemerkte jetzt, daß ein dünner Lichtstreifen durch das Schott zum Mitteldeck hereinfiel. Anscheinend war das Schott nur angelehnt. Einen größeren Gefallen hatten ihm die Strolche nicht tun können.
„Was meinst du denn damit?“ erkundigte sich einer der Kerle in einfältigem Tonfall.
Die Halunken waren faul wie die Sünde, folgerte Old Donegal. Sie taten alles nur Erdenkliche, um ihren Anführer im Gespräch hinzuhalten – alles, um die Arbeit an Bord des zerrupften Einmasters so lange wie möglich hinauszuschieben.
„Ja, seid ihr denn von gestern?“ rief der Sargento dröhnend. „Glaubt ihr im Ernst, daß der alte Knacker dieses hübsche Schiffchen allein führt? Seine Leute müssen an Land sein. Egal, was sie da treiben, wir können nur hoffen, daß der Sturm abflaut, bevor sie zurück sind.“
„Die schießen wir doch in Stücke“, sagte einer der Kerle im Brustton der Überzeugung. „Mit all den Drehbassen haben wir hier eine richtige kleine Festung.“
Leider wahr, dachte Old Donegal grimmig. Er hörte nicht weiter hin, richtete sich vorsichtig ganz auf und tastete sich geräuschlos durch die Enge des Kabelgatts. Zum Glück hatten sich die Galgenstricke nicht die Mühe bereitet, genauer nach dem Rechten zu sehen. Daher wußten sie auch nicht, daß das Kabelgatt gleichzeitig als Reserve-Waffenkammer diente.
In einer Ecke, hinter Taurollen verborgen, stieß er tastend auf die Halterung mit den Musketen und anderen Langwaffen. Er entschied sich für einen Blunderbuss, den er vorsichtig aus der Arretierung löste. Schwarzpulver und gehacktes Blei füllte er behutsam in den trichterförmigen Lauf und benutzte den schweren Ladestock, um die Ladung zu sichern. Mit Daumen und Zeigefinger überzeugte er sich, daß das Steinschloß in Ordnung war. Der Flint war bombenfest in den Hahn gespannt, der Reibstahl knochentrocken, wie es für einen einwandfreien Zündvorgang unerläßlich war.
Mit der geladenen Waffe schlich Old Donegal zum angelehnten Schott. Das Palaver der Kerle tönte noch immer über das Mitteldeck. Eine beruhigende Tatsache. Solange sie nichts unternehmen, arbeitete die Zeit gegen sie. Denn irgendwann mußten ja auch Arkana, Batuti und die anderen mit der Wurzelsuche fertig sein. Wahrscheinlich, so überlegte der alte O’Flynn, hatten sie aber auch den Drehbassenschuß gehört, wenn sie nicht ganz taub waren. Er spürte es an einem deutlichen Kribbeln in seinem Holzbein, daß sich die Dinge sehr bald entscheidend ändern würden.
Er erreichte das Schott, verharrte und horchte angestrengt. Geduld war jetzt am Platze.
Nach etlichen Minuten gelangten die Halunken endlich zu einer Einigung. Der Sargento konnte sich durchsetzen. Zwei von ihnen erhielten Order, zur Schaluppe hinüberzupullen und zunächst ihre Habseligkeiten zu holen. Danach sollten sie Verstärkung erhalten, damit auch Leinen, Trossen, Segeltuch und andere Ausrüstung geborgen werden konnten. Zum Schluß sollte die Schaluppe angebohrt und auf Grund gesetzt werden.
Die Deserteure waren bestrebt, ihre Spuren zu verwischen.
Old Donegal packte den Blunderbuss fest mit beiden Fäusten. Den Geräuschen nach begaben sich die beiden Spanier jetzt ins Beiboot. Nur noch drei befanden sich folglich an Bord