Die Schlangenpriesterin, die sich auf das Achterdeck begeben hatte, beobachtete den Küstenverlauf. Sie nickte, ohne den Kopf zu wenden.
„Wir werden unser Ziel in wenigen Augenblicken erreichen“, sagte sie.
Minuten später tauchte tatsächlich jene weit vorgeschobene Landzunge auf, die Arkana zuvor als Orientierungspunkt genannt hatte. Old Donegal zweifelte nicht daran, daß die schlanke schwarzhaarige Frau übersinnliche Fähigkeiten hatte. Wie anders sollte sie die Lage einer Bucht bestimmen können, da sie doch über keinerlei navigatorische Fähigkeiten wie die europäischen Seefahrer verfügte?
Aber es war jetzt nicht der Zeitpunkt, sich über Rätselhaftes den Kopf zu zerbrechen. Der alte O’Flynn war fest entschlossen, die besonderen Vorzüge seines Schiffes und seiner kleinen Crew zu nutzen, um Gotlinde so rasch wie möglich mit der lebensrettenden Medizin zu versorgen.
Zielsicher lotste Arkana die „Empress“ in die Einfahrt der Bucht. Hinter der mit hohen Bäumen bestandenen Landzunge gab es einen geschützten Ankerplatz gegen den inzwischen noch stärker gewordenen Nordost. Auf Anweisung des alten O’Flynn sorgten die Männer für die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Mit ihrem verhältnismäßig flachen Tiefgang wurde die „Empress“ dicht hinter die Landzunge gelegt. Auf den Buganker allein wollten sich Old Donegal und seine Gefährten nicht verlassen. Sie fierten das Beiboot ab und vertäuten den Dreimaster zusätzlich mit mehreren Leinen zu den Bäumen an Land.
Noch war es nicht hell genug, um mit der Suche nach den Heilwurzeln zu beginnen. Darüber waren sich Old Donegal und Arkana einig. Es blieb also Zeit für eine Mütze voll Schlaf bis zum endgültigen Hellwerden.
Nach den Strapazen der Nacht fielen die Männer in ihre Kojen, und augenblicklich verkündeten unüberhörbare Schnarchtöne, daß ihnen die Müdigkeit in allen Knochen steckte. Old O’Flynn grinste auf dem Achterdeck. Er selbst brauchte keinen Schlaf, was er auf seinen Vorsprung an Lebensalter zurückführte. Einer mußte ohnehin die Wache übernehmen, also war es nur vernünftig, daß die jüngeren Männer sich etwas erholten.
Was sich in der Wetterküche zusammenbraute, bemerkte Old Donegal unterdessen schon nach einer knappen Stunde.
Der Nordost änderte seine Richtung und entwickelte sich im Handumdrehen zu einem satten Sturm aus Osten. Immer rascher trieb er die Wolken vor sich her und ballte sie zu düsteren Bänken zusammen. Die Baumwipfel neigten sich rauschend unter der Macht der Böen, und auch dem Wellengang in der Bucht wurden weiße Kronen aufgesetzt. Alles in allem hatte es den Anschein, als wollte es an diesem Tag überhaupt nicht mehr richtig hell werden.
Unter normalen Umständen hätte Old Donegal dies als böses Vorzeichen gewertet. Aber während er auf dem Achterdeck ausharrte, dachte er nicht daran, sich seine gute Stimmung austreiben zu lassen. Die Aktion hatte bis jetzt bestens geklappt, und so sollte es auch bleiben. Die Suche nach den Wurzeln würde nicht sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Aller Voraussicht nach konnten sie noch vor Ende dieses Tages zur Schlangen-Insel zurückkehren.
Der alte O’Flynn gönnte Arkana und den Männern noch eine weitere Stunde Schlaf. Dann rüttelte er sie wach, nachdem er ihre Ausrüstung bereitgestellt hatte. Jeder der Männer nahm einen großen Flechtkorb mit. Die Schlangenpriesterin wollte die Gelegenheit nutzen, gleich einen ausreichenden Vorrat an Heilwurzeln mit zur Schlangen-Insel zu nehmen.
Die fünf Männer stiegen gemeinsam mit Arkana ins Beiboot und pullten über die kurze Distanz bis zum Ufer. Ihre Bewaffnung beschränkte sich auf Pistolen und Entermesser. Bei ihrer Suche im urwaldähnlichen Gelände mußten sie vor allem beweglich sein.
Old Donegal winkte ihnen noch einmal zu, als sie im Dickicht verschwanden. Er selbst konnte sich nicht an diesem „Landgang“ beteiligen, folglich blieb er als Wache zurück. Das Herumkrauchen im Unterholz wäre mit seinem Holzbein zu beschwerlich gewesen, und er hätte die anderen nur behindert.
Unvermittelt schreckte der alte O’Flynn aus seinen Gedanken auf.
Nur einen Teil der aufgewühlten See konnte er durch den Eingang der Bucht überblicken. Doch vor diesen sturmgepeitschten Hintergrund schoben sich plötzlich eindeutige Umrisse: ein Einmaster, arg gerupft und zerzaust vom Toben der Naturgewalten. Die Besatzung hatte ein Notsegel gesetzt. Am Mast waren noch Reste von zerfetztem Tuch zu erkennen.
Old Donegal kniff die Augen zusammen. Es geschah, was er beim Erblicken der Schaluppe sofort befürchtet hatte – sie suchte Schutz in der Bucht. Beim Herannahen des Einmasters erkannte er, daß es sich bei den Männern an Bord um Spanier handelte. Seesoldaten vermutlich. Aber nur einige von ihnen trugen noch Helm, Brustpanzer und Kürbishosen. Der, der das Kommando auf dem Achterdeck führte, schien ein Sargento zu sein. Zehn Kerle waren es insgesamt, und auch bei freundlichem Sonnenschein wäre ihr Anblick alles andere als vertrauenerweckend gewesen.
Irgend etwas stimmte mit diesen Dons nicht. Daran gab es keinen Zweifel.
Ausgerechnet Spanier! Der alte O’Flynn knurrte einen Fluch. Kurz entschlossen wandte er sich ab, ging zur Waffenkammer und kehrte mit einem geladenen Blunderbuss zurück.
Wie erwartet, hatten die Kerle die „Empress“ bereits bemerkt. Heisere Stimmen wehten herüber, als sie ihren Kahn in zwei Kabellängen Entfernung vor Anker legten. Old Donegal sah jetzt, daß die Schaluppe kurz vor dem Auseinanderfallen war. Bei dem Sturm hätten die Dons keine zehn Meilen mehr geschafft. Ein flaues Gefühl breitete sich in Old Donegals Magengegend aus. Böse Ahnungen beschlichen ihn.
Drüben auf dem Einmaster zögerten sie nicht lange. Ein kleines Beiboot wurde ausgesetzt, und der Sargento ließ sich von vier Mann herüberpullen.
Der Anführer der Spanier war ein bulliger Kerl mit zernarbter Visage. Sein Grinsen sollte offenbar freundlich wirken. Er gab Kommando zum Streichen, als das Boot nur noch wenige Yards von der Bordwand der „Empress“ entfernt war.
„Guten Tag, Amigo!“ rief er mit dröhnender Baßstimme. „Auch Schutz vor dem Sturm gesucht?“
„Sieht so aus“, entgegnete Old O’Flynn mürrisch. Sein Mißtrauen wuchs. Die Scheinheiligkeit dieses Kerls war geeignet, ihm Übelkeit zu bereiten.
„Wir wollen nach Tortuga“, fuhr der Sargento mit unverändertem Grinsen fort. „Eine Ahnung, wie weit es bis dahin noch ist?“
„Gleich um die Ecke“, erwiderte Old Donegal grantig. „Kleine hundertfünfzig Seemeilen.“
Die Kerle lachten, als hätte er einen besonders guten Scherz vom Stapel gelassen. Aus der Nähe besehen gefielen sie ihm noch weniger. Kein Zweifel, daß es sich um Deserteure handelte. Und ihre Frage nach Tortuga bedeutete nichts anderes, als daß sie dort dem Geschäft der Piraterie nachgehen wollten.
„Du sprichst unsere Sprache perfekt“, sagte der Sargento. „Wo hast du das gelernt?“
„Bei einem Freudenmädchen in Honduras“, entgegnete Old Donegal bissig. „Unterricht aus erster Hand.“
Wieder lachten sie schallend.
„Da mußt du aber noch ein paar Jahre jünger gewesen sein!“ rief der Sargento glucksend. Im nächsten Moment verengten sich seine Augen, und sein Blick glitt lauernd über den schmucken kleinen Dreimaster. „Und was treibst du hier so ganz allein?“
Old Donegal spürte, wie der Zorn in ihm zu kochen begann. Wie unbeabsichtigt legte er den Blunderbuss auf die Verschanzung. Natürlich wollten diese Strolche die Gelegenheit beim Schopf packen und die „Empress“ mit Beschlag belegen.
„Ich warte den Sturm ab“, knurrte er.
„Mutterseelenallein?“
Dem alten O’Flynn platzte der Kragen.
„Für dämliche Fragen bin ich nicht zuständig“, erwiderte er wütend. Dabei hob er die Waffe mit dem trichterförmigen Lauf. „Und jetzt seht zu, daß ihr abzischt. Sonst gibt’s einen Bums aus diesem Rohr, und dann bleibt