Er rief den Stör aus seinem Versteck und winkte ihn zu sich heran.
„Du hast gehört, was los ist. Ich muß dich jetzt eine Weile allein lassen. Du wirst hier die Stellung halten, verstanden? Und vor allem wirst du keine Dummheiten anstellen. Ist das klar?“
Der Stör zog sein Gesicht noch länger, als es ohnehin schon war.
„Aber ich kann doch nicht …“ Er zog hilflos die Schultern hoch.
„Was kannst du nicht?“
„Die Schenke geöffnet halten. Ich meine, wenn die Kerls hier auftauchen und was trinken wollen, dann bin ich doch schon entdeckt. Und dann wird Thorfin mich kielholen lassen.“
„Unsinn. Natürlich wird der Laden geschlossen. Miß Snugglemouse und die anderen Weiber erlauben sowieso keine Sauferei, solange Gotlinde um ihr Leben kämpft. Ist ja auch verständlich. Also: Du verkriechst dich und läßt dich nicht blicken, bis ich wieder zurück bin. Verpflegung ist genug vorhanden. Du lebst also wie im Paradies. Klar?“
Der Stör nickte bedächtig.
„Und was ist, wenn Mary O’Flynn aufkreuzt?“
„Himmel!“ stöhnte Old Donegal. „So schwer von Begriff kannst du doch gar nicht sein. Dann versteckst du dich – genauso, wie du’s eben getan hast.“
Er verschwendete keine Zeit mehr und überließ den Langgesichtigen sich selbst. Letzten Endes war der Manns genug, um mit sich selber fertig zu werden. Gotlindes Wohlergehen stand jetzt an erster Stelle aller Überlegungen. Von ihrer Gesundheit hing es schließlich auch ab, ob die beiden Neugeborenen eine Überlebenschance hatten. Alles zusammen war von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Seelenheil des schwer angeschlagenen Wikingers.
Der alte O’Flynn war sich der Tragweite seiner Mission in vollem Umfang bewußt. Es war ein Auftrag so recht nach seinem Geschmack.
Eilends humpelte er mit seinen Krücken zur Innenbucht hinunter und sprach Ben Brighton an, der gleich darauf auf dem Achterdeck der „Isabella“ erschien. Der Erste Offizier des Seewolfs war sofort einverstanden, abermals Batuti und Bob Grey für die „Empress“ zur Verfügung zu stellen. Angesichts der Wichtigkeit des Einsatzes kommandierte Ben außerdem Jack Finnegan für den Borddienst auf der kleinen Karavelle ab.
Die drei Männer erschienen Minuten später an Deck. Ein Beiboot wurde abgefiert. Sie pullten zum Strand, wo jetzt auch Arkana, die Schlangenpriesterin, erschien. Keine der anderen Frauen begleitete sie. Old Donegal konnte daran ermessen, wie ernst es um Gotlinde bestellt war.
„Das Wetter wird stürmisch“, sagte Arkana mit einem besorgten Blick zum Himmel. „Es wird nicht leicht sein, die Heilwurzeln zu beschaffen.“
„Keine Sorge“, entgegnete Old Donegal. „Mit der ‚Empress‘ segle ich dem Gehörnten sämtliche Ohren und auch noch den Schwanz ab, wenn es sein muß. Und für Gotlinde segeln wir notfalls sogar mitten durchs Fegefeuer.“
Sie begaben sich ins Beiboot, und die Männer von der „Isabella“ pullten mit kraftvollen Schlägen zu der kleinen Karavelle des alten O’Flynn. Martin Correa erwartete sie bereits. Nach den Zurufen zwischen Old Donegal und Ben Brighton wußte er bereits, um was es ging. Ebenso wie die anderen Männer war Martin Correa von einer fieberhaften Entschlossenheit gepackt.
Die Begleitmannschaft von der „Isabella“ pullte die Jolle zurück. Noch bevor sie den Dreimaster des Seewolfs erreichten, war die „Empress“ bereits seeklar. Old Donegal gab das Zeichen zum Ankeraufgehen. Mit rasch zunehmender Fahrt rauschte sein Schiff auf den Felsentunnel zu. Abschiedsrufe von den zurückbleibenden Männern begleiteten sie. Old Donegal meinte, auch die Stimme des Wikingers zu vernehmen. Aber Thorfin war nicht zu sehen, da er noch immer flachlag. Er schien sich mittlerweile zu einem folgsamen Kranken entwickelt zu haben.
Routiniert überwand Martin Correa den Mahlstrom. Die „Empress“ brauste auf das offene Wasser hinaus.
Der Zufall wollte es, daß Batuti in dem Moment einen Blick zurückwarf, in dem der kleine Dreimaster den Felsendom hinter sich ließ.
„Ho, seht euch das an!“ rief der Gambianeger mit ungläubigem Gesichtsausdruck.
Die Männer ruckten herum und glaubten ihren Augen nicht zu trauen.
Auf einer kleinen Plattform hoch über dem Dom war die Silhouette eines Mannes zu erkennen. Unverwechselbar das lange Gesicht.
Der Stör.
Bevor Old Donegal und die anderen auf der „Empress“ auch nur einen Laut hervorbringen konnten, stürzte sich der Langgesichtige kopfüber in die Tiefe.
Sofort ließ der alte O’Flynn beidrehen und die Segel wegnehmen.
„Ist der Kerl denn wahnsinnig?“ rief Martin Correa erbost, während er Ruder legte.
„Das nicht“, antwortete Old Donegal. „Aber sein Verstand funktioniert nicht mehr ganz richtig, seit er Thorfin zum Knöchelbruch verholfen hat.“
Atemlos verharrten die Männer an Bord der „Empress“. Der Kopf des Störs tauchte aus den kabbeligen Fluten auf, dann schwamm er mit langen Zügen auf den kleinen Dreimaster zu. Old Donegal wußte am besten, was in dem von Selbstvorwürfen geplagten Mann vor sich ging. Sein Schuldkomplex hatte ihn dazu getrieben, auf diese verrückte und gefährliche Weise an Bord der „Empress“ zu gelangen. Denn immerhin mußte er damit rechnen, daß Haie auftauchten und ihn zum Frühstück vernaschten. Aber die Tatsache, daß er Gotlinde vergötterte und sein Mißgeschick gleichzeitig zutiefst bereute, hatte ihn veranlaßt, seinen Entschluß mit der gewohnten Verzögerung zu fassen. Er wollte an der Fahrt nach Hispaniola teilnehmen, um sein Gewissen zu entlasten. Dank Batutis Aufmerksamkeit war es möglich, den Stör rechtzeitig an Bord zu nehmen, bevor die gefürchteten Dreiecksflossen auf der Wasseroberfläche erschienen.
„Da hast du aber ein Mordsglück gehabt“, sagte der Gambianeger, während er gemeinsam mit Jack Finnegan zupackte und den triefend nassen Kerl über die Verschanzung zog.
„Bitte nimm mich in deine Crew auf“, wandte sich der Langgesichtige an den alten O’Flynn.
„Das hättest du dir auch eher überlegen können“, entgegnete Old Donegal, wobei er aber wohlwollend nickte. Eine Hand mehr an Bord konnte nicht schaden, zumal die ersten Wolken aufzogen. Der Nordost hatte bereits beträchtlich zugelegt.
Old Donegal schickte den Stör unter Deck, damit er sich mit trockenen Sachen versorgte. Keiner der Männer stellte eine überflüssige Frage. Aus der Tatsache, daß der Stör von der Mission der „Empress“ wußte, war eindeutig zu folgern, wo er sich vorher verkrochen hatte. Aber das war jetzt unerheblich. Es ging nur noch darum, den Auftrag schleunigst und zuverlässig zu erfüllen.
Der alte O’Flynn ließ erneut die Segel setzen. Auch bei zunehmendem Wind dachte er nicht daran, nur einen Fetzen Tuch wegzunehmen. Raumschots jagte die „Empress“ der Nordküste Hispaniolas entgegen. Nach Arkanas Auskunft sollte es in der Nähe von Puerto Plata eine kleine Bucht geben, in der man die Heilwurzeln finden würde.
Der Bund der Korsaren konnte froh sein, daß der alte Ramsgate die kleine Karavelle gebaut hatte. Denn in einem Notfall wie diesem leistete sie als handigstes und schnellstes Schiff hervorragende Dienste.
6.
In den ersten Morgenstunden des 27. April, bei beginnendem Tageslicht, erreichte die „Empress“ die Küste von Hispaniola ziemlich genau an der vorgesehenen Stelle nahe Puerto Plata. Stolz verstaute der alte O’Flynn den Jakobsstab, als der Küstenverlauf sich im Morgengrauen deutlich abzeichnete. Trotz widriger Umstände hatte er als Navigator hervorragende Arbeit geleistet.
Nur in längeren Zeitabständen war die Wolkendecke aufgerissen, entsprechend reaktionsschnell hatte Old Donegal in solchen Momenten die Gelegenheit nutzen müssen, sich am Stand der Gestirne